Politik

Buchkritik: Kampf der Kulturen

Autor : Samuel P. Huntigton
Verlag : Europa Verlag München Wien
ISBN-Nr.: 3-203-78001-1
Preis : 68.00 DM

Nach dem völlig überraschenden Ende des Kalten Krieges wurde vielfach von einem "Ende der Geschichte" und dem Anbruch eines goldenen, friedlichen Zeitalters geträumt. Doch schon bald war klar, daß mit dem Ende des globalen Konfliktes der beiden großen Ideologien des 20. Jahrhunderts die Welt unberechenbarer geworden war. Am Persischen Golf mußte eine internationale Staatengemeinschaft die irakischen Truppen aus Kuwait vertreiben, die nach wie vor (zumindest auf dem Papier) kommunistischen Regime Nordkoreas und Chinas rasselten gegenüber ihren Brüderstaaten Südkorea und Taiwan lauter und bedrohlicher mit den Waffen als je zuvor und selbst in Europa, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit Ausnahme der Interventionen durch die Rote Armee in diversen Ostblockstaaten von zwischenstaatlichen militärischen Konflikten verschont geblieben war, loderte plötzlich wieder das Feuer des Krieges. Und das ausgerechnet auf dem Balkan, der, insbesondere für Deutsche als Urlaubsparadies trivialisiert, eigentlich als das Musterbeispiel für eine friedliche Koexistenz der Menschen verschiedener Kulturen, Religionen und Ideologien galt. Bereits 1993 machte sich der inzwischen siebzigjährige Samuel P. Huntington, seines Zeichens Professor für Politikwissenschaft, Berater des US-Außenministeriums und Leiter des John M. Olin-Institutes für Strategische Studien in Harvard, in einem vielbeachteten Essay mit dem Titel "The Clash of Civilizations ?" Gedanken über mögliche Ursachen für die geschilderten weltpolitischen Entwicklungen. 1996 führten die auf Grundlage dieser "Kultur-Knall-Theorie" (so der Verlag) durchgeführten Forschungsarbeiten dann sogar zu einer Veröffentlichung eines Buches. Daß Huntington darin an seinen Thesen nicht nur festhält, sondern sie mit zunehmender Vehemenz vertritt, zeigt sich daran, daß im Titel das noch Zweifel anmeldende Fragezeichen verschwunden ist. Huntington geht nun vom "Clash of Civilizations" aus, zu deutsch vom "Kampf der Kulturen".

Mit der Übersetzung des Buchtitels ist auch gleich ein linguistisches Problem angesprochen. Denn im deutschen Sprachgebrauch hat es sich seit dem 19. Jahrhundert eingebürgert, zwischen Zivilisation als technische und materielle Faktoren umfassende Größe einerseits und Kultur als Sammelbegriff für die Werte, Ideale und künstlerischen Eigenschaften andererseits streng zu unterscheiden. Diese Trennung ist anderen Sprachen fremd. Hier ist eine Zivilisation "eine kulturelle Größe", "eine Kultur in großem Maßstab" (Huntington). Dieser Sonderweg der deutschen Geisteswissenschaft führt dazu, daß aus den "civilizations" des amerikanischen Orignals in der Übersetzung "Kulturen", "Kulturkreise" oder "Hochkulturen" werden, worauf in einer Anmerkung zum Vorwort des Buches explizit hingewiesen wird. Anhänger eine eindeutigen Terminologie wird das zwar nicht unbedingt freuen, aus Gründen der Verständlichkeit scheint diese Lösung aber unumgänglich zu sein und sie erweist sich bei der Lektüre auch durchaus als überzeugend. Das muß sie auch, denn bei der "Kultur", bzw. dem Kulturkreis als größter kultureller Einheit, mit der sich Menschen identifizieren, handelt es sich um den zentralen Begriff des Buches. Als bedeutende Merkmale, aus denen sich die Zuordnung eines Menschen zu einem Kulturkreis ergibt, nennt Huntington u.a. die Sprache, die gemeinsame Geschichte, Gebräuche, Lebensstil und in erster Linie die Religion. Die Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts teile sich unter Anlegung dieser Kriterien in acht (und nicht, wie im Klappentext des Buches behauptet, in sieben) große Kulturen: die chinesische/sinische, die japanische, die hinduistische, die islamische, die westliche, die afrikanische, die orthodoxe und die lateinamerikanische Kultur. Dabei räumt Huntington ein, daß die Abgrenzung nicht zwingend ist - so wäre es beispielsweise auch denkbar, die lateinamerikanische Kultur aufgrund ihrer geschichtlichen Wurzeln, der (katholischen) Religion und der Sprache dem westlichen Kulturkreis zuzuordnen. Eine Einteilung in Kulturkreise sei jedoch unbedingt erforderlich, um die derzeitigen globalen Entwicklungen verstehen zu können. Denn diese seien durch Veränderungen innerhalb der Kulturkreise bedingt. Als wichtige Parameter nennt Huntington hier das "Verblassen des Westens", die "asiatische Affirmation" und die "Resurgenz des Islam". Insbesondere die beiden letztgenannten Kulturkreise würden sich zunehmend auf ihre Werte und ihren Ursprung besinnen und sich gegenüber dem Westen selbstbewußt behaupten.

Unter solchen Prozessen, die vor nationalen Grenzen nicht halt machten, litten insbesondere die Staaten, die zwischen zwei Kulturen stehen. Als Beispiel nennt Huntington u.a. die Türkei, die sei Atatürk versuche, Bestandteil des "Westens" zu werden, von diesem aber abgelehnt werde und sich so zunehmend islamischen Einflüssen ausgesetzt sieht, die sie nur mit Gewaltanwendung im Inneren unterdrücken könne. Das gern zitierte Wort von der "Brücke zwischen zwei Kulturen" hält Huntington für einen reinen "Euphemismus".
Ein weiterer wichtiger Baustein seines Modells ist der sogenannte Kernstaat. Darunter ist der Staat innerhalb eines Kulturkreises zu verstehen, dessen Macht so groß ist, daß er innerhalb des Kulturkreises eine Ordnungsfunktion wahrnehmen kann, wie es z.B. Rußland innerhalb der orthodoxen Kultur für sich in Anspruch nimmt. Besitzt ein Kulturkreis keinen Kernstaat, so Huntingtons These, tendiert diese Kultur stärker als andere zu innerkulturellen, aber auch intrakulturellen Konflikten. Dies zeige sich insbesondere am Islam, in dem mehrere Staaten (Iran, Pakistan, Saudi-Arabien) versuchten, die Führung in der "ummah", der Gemeinschaft der Gläubigen, zu übernehmen, und der somit mangels Führung sowohl nach innen als auch nach außen sehr aggressiv auftrete. Doch gleichzeitig bedinge das Fehlen einer starken politischen Führung im islamischen Kulturkreis, daß die Konflikte, die er hervorbringt, sich vor allem auf der Mikroebene bewegen werden. Auf der Makroebene sei hingegen die Interaktion zwischen der westlichen Kultur und den anderen Kulturkreisen von zentraler Bedeutung. Der Westen habe in der Vergangenheit erheblichen Einfluß auf alle anderen Kulturen ausgeübt und strebe nach wie vor die Errichtung einer universalen Kultur, die weltweite Verbreitung seiner Lebensweise und seiner Ideale an. Dieser Universalismus gerate jedoch mehr und mehr mit der zunehmenden Rückbesinnung der anderen Kulturkreise auf ihre eigene Kultur in Konflikt und werde mithin von deren Bewohnern zunehemend als purer Imperialismus empfunden. Als die drei bedeutendsten Streitpunkte zwischen dem Westen und dem Rest der Welt nennt Huntington die Proliferation von Kernwaffen, die Menschenrechte westlicher Prägung und die Begrenzung der Einwanderung von Menschen nichtwestlicher Kulturkreise in den Westen. Lediglich die lateinamerikanische und mit allerdings abnehmender Tendenz vielleicht auch die afrikanische Kultur werden ihre Interessen nach Huntingtons Analyse zukünftig weitgehend denen des Westens anpassen. Insbesondere gegenüber der wirtschaftlich aufstrebenden chinesischen und der ideologisch und aufgrund hoher Geburtenraten auch zahlenmäßig erstarkenden islamischen Kultur seien hingegen die Konflikte vorprogrammiert. Verstärkend komme eine zunehmende Kooperation zwischen diesen Kulturkreisen hinzu, die der Politologe in erster Linie in einer militärischen Zusammenarbeit zwischen China, Pakistan und dem Iran ausgemacht haben will. Abhängig von der Situation und der Stärke der beiden großen kulturellen Lager würden schließlich die drei anderen Kulturen (die japanische, die orthodoxe und die hinduistische) ihre Interessen in die weltpolitische Waagschale werfen.

Auf der Basis dieses Modells entwirft Huntington ein "worst case"-Szenario, das er im Jahre 2010 ansiedelt. Korea ist wiedervereinigt, die USA haben demzufolge ihre Truppen aus dem Land abgezogen und weiterhin auch die Zahl ihrer in Japan stationierten Streitkräfte erheblich verringert. China, das eine weitgehende Verständigung mit Taiwan erreicht hat, teilt sich zunächst mit dem von der US-Wirtschaft unterstützten Vietnam die Ölreserven im Südchinesischen Meer, will aber schon bald als dominierende Macht Asiens den ganzen Kuchen für sich alleine. Es kommt zu einer Neuauflage des chinesisch-vietnamesischen Krieges vom Ende der siebziger Jahre, mit dem Unterschied, daß diesmal Vietnam die USA um Hilfe ersucht. Während es zu bewaffneten Auseinandersetzungen im Südchinesischen Meer kommt, distanziert sich Japan von der Einmischung seitens der USA, erklärt sich für neutral und untersagt den Vereinigten Staaten die Benutzung ihrer japanischen Stützpunkte. Aufgrund der potentiellen Gefahr eines Einsatzes von Kernwaffen wendet sich die Stimmung in den USA zunehmend gegen den Krieg. Gleichzeitig versucht Indien, den strategischen Vorteil, der sich aus der Verwicklung Chinas in eine militärische Konfrontation ergibt, auszunutzen und beginnt einen Überfall auf Pakistan. Doch dieses erfährt Unterstützung durch den Iran, der, wie alle anderen Staaten mit starken islamischen Bewegungen durch die Schwäche der USA motiviert ist un eine weitere Radikalisierung erfährt. Diese führt zu einem konzentrierten Angriff der islamischen Staaten gegen Israel. Unterdessen wendet sich Japan angesichts immer neuer militärischer Erfolge Chinas dem asiatischen Nachbarn zu und besetzt die US-Basen in Japan. Diese Allianz wiederum weckt bei Rußland Ängste, was zu massiven Truppenverstärkungen in Sibirien und dem Beginn einer militärischen Auseinandersetzung mit China führt. Die USA, die nun auch noch Rußland unterstützen, ersuchen verzweifelt ihre europäischen Verbündeten um Hilfe. Diese gewähren zwar diplomatische und wirtschaftliche Unterstützung, schrecken jedoch noch vor einem militärischen Engagement zurück. Um dieses endgültig ausschließen zu können, schaffen China und der Iran heimlich Atomwaffen nach Algerien und Bosnien, um die europäischen Staaten vor einem Kriegseintritt nachdrücklich zu warnen. Doch die Serben, die sich als Retter des Christentums sehen und Revanche für den Dayton-Friedensvertrag nehmen wollen, marschieren auf eigene Faust in Bosnien ein und gelangen tatsächlich in den Besitz der Kernwaffen. Als Revanche zünden die algerischen Fundamentalisten jedoch eine Atombombe über Marseille, was massive Vergeltungsschläge der NATO gegen nordafrikanische Ziele nach sich zieht. Ein globaler Kampf der Kulturen hat begonnen, dessen Ausgang unklar ist, dessen Gewinner Huntington aber in den Kulturen sieht, die sich aus dem Konflikt weitgehend heraushalten können, was zum Teil Indien und Afrika, in erster Linie aber der lateinamerikanische Kulturkreis sein werde.

Huntington selbst bezeichnet das geschilderte Szenario als unwahrscheinlich. Er betont aber nachdrücklich, daß es nicht ausgeschlossen ist, insbesondere dann, wenn die USA nicht die neuen Spielregeln der Weltpolitik akzeptieren könnten, was zum Beispiel Europa bereits zumindest partiell gelungen sei. Als die beiden bedeutendsten Eckpfeiler einer Politik im Zeitalter der Kulturen definiert Huntington das Prinzip der Enthaltung und das Prinzip der gemeinsamen Vermittlung. Ersteres besagt, daß sich Kernstaaten eines Kulturkreises nicht in Konflikte in anderen Kulturen einmischen dürfen. Und hinter dem zweiten steckt der Gedanke, daß Kernstaaten gemeinsam daran arbeiten sollen, sogenannte Bruchlinienkonflikte, denen die Tendenz zur Eskalation innewohne, einzudämmen oder sogar zu beenden. Hinzu trete schließlich als dritte Regel noch das Prinzip der Gemeinsamkeiten. Die Menschen aller Kulturkreise sollten verstärkt nach dem suchen, was sie verbindet, als nach dem, was sie trennt. Schließlich gelte es, gemeinsam gegen einen möglicherweise zunehmenden globalen Werteverfall anzugehen, in einem "größeren Kampf, dem globalen »eigentlichen« Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei".

Das in fünf Teile, welche jeweils nochmals in Kapitel und Unterkapitel unterteilt sind, gegliederte Buch "Kampf der Kulturen" ist eine interessante Mischung aus politikwissenschaftlicher Untersuchung und politischem Manifest. Während der ersten drei Viertel, die Huntington mit ausführlichen Erläuterungen und sehr gelungenen Einzelfalldarstellungen bestreitet, überwiegt eindeutig die Wissenschaft. Unterstrichen wird das durch zahlreiche Schaubilder, Tabellen und Grafiken, sowie durch ebenfalls sehr viele Belege und Anmerkungen. Leider wurden diese nicht in Form von Fußnoten, sondern vielmehr als sehr unpraktische und den Lesefluß behindernde Endnoten in den Text eingefügt. Das ist besonders ärgerlich, da neben (regelmäßig wenig interessanten) Fundstellen ab und an auch umfangreichere Erläuterungen in diesen Endnoten zu finden sind. Inhaltlich kann man natürlich gegen Huntingtons Analyse verschiedene Einwände vorbringen. Wie so oft in wissenschaftlichen Werken scheinen manche aufwendigen Begründungen letzten Endes eher potemkische Dörfer zu sein, die scheinbar zwingende Logik ist nur schwer vom Zirkelschluß zu unterscheiden - was zum Beispiel daran deutlich wird, daß Huntington nur in sehr geringem Umfang Gegenbeispiele zu seiner These, daß sich die Weltpolitik in zunehmendem Maße an der kulturellen Zuordnung orientiere, sucht und einräumt, obwohl es solche durchaus gibt. Erinnert sei nur an die blutigen Auseinandersetzungen innerhalb nicht-islamischer Kulturkreise, wie z.B. dem Nordirlandkonflikt oder dem Krieg zwischen den Hutu und den Tutsi in Ruganda und dem anschließenden, von den Tutsi unterstützten Vormarsch der Rebellen in Zaire. Und was 1993, als der dem Buch zugrundeliegende Essay entstand, noch richtig war und von daher zu Recht in die Analyse einfließen konnte, erscheint heute auch nicht mehr unbedingt zwingend. So scheint etwa der Vormarsch der Islamisten durch die politischen Institutionen der Türkei zunächst einmal gebannt zu sein. Im Iran regiert seit einigen Wochen ein politisch gemäßigter Ministerpräsident, mit dessen Wahl noch vor einem Jahr niemand gerechnet hätte. Der wirtschaftliche Aufschwung Ostasiens, insbesondere der "kleinen Tiger", ist zeitweilig erheblich ins Stocken geraten. Und die USA, die von Huntington noch als führungsschwach und innerlich zerrissen empfunden wurden, mischen, angetrieben von einem gewaltigen Wirtschaftsboom, die Weltpolitik kräftig auf, beziehen für ihre Interessen klare Positionen und schulregeln offen die anderen G7-Partner. Darüber hinaus scheinen sich auch die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Japan deutlich zu verbessern, was bereits zu Irritationen Chinas geführt hat. All das sind neue Entwicklungen, die nicht mehr so recht in das Bild passen, das Huntington in seinem Werk zeichnet. Doch natürlich muß die These von der Welt der Kulturen nicht sämtliche politischen Entwicklungen erklären können - und sie will das dezidiert auch gar nicht. Vielmehr soll sie als ein grobes Raster dazu dienen, die vielleicht nicht ganz so offensichtlichen Zusammenhänge besser erkennen und auf dieser Basis politische Entscheidungen treffen zu können. Und das leistet Huntingtons These mit Blick auf die kulturell bedingten Entscheidungsparameter durchaus überzeugend, so daß, solange ihnen in politischen Entscheidungsprozessen eine hohe Priorität zukommt, Huntingtons Buch als verläßlicher Kompaß für die Orientierung in der Gegenwart sorgen kann.

"Um meinen verstorbenen Kollegen Thomas Kuhn mit einem klassischen Satz zu zitieren: `Eine Theorie muß nur besser sein als alle anderen, sie muß nicht alles erklären können - das tut kein Modell.' Haben Sie eine bessere Landkarte, um sich in der heutigen Welt zurechtzufinden?" -- Samuel P. Huntington im SPIEGEL-Gespräch (SPIEGEL 48/96)

Und damit ist auch schon das Problem beim Namen genannt. Der "Kampf der Kulturen" ist da überzeugend, wo er sich auf Fakten stützen kann und versucht, die Gegenwart wiederzugeben. Im letzten Viertel, in dem Huntington sich einer Prognose über zukünftige Entwicklungen und Vorschlägen zu deren Steuerung zuwendet, verläßt er den sicheren Boden des Bekannten und wagt sich auf das dünne Eis der Spekulation. Und das knirscht ganz gewaltig, da er einfach die Erfahrungen der Vergangenheit unbesehen in die Zukunft projiziert - als wäre das 20. Jahrhunderts nicht gerade ein Gegenbeweis für die Welt der Kulturen gewesen, so daß eine Vorhersage für einen Zwanzigsjahreszeitraum, wäre sie beispielsweise 1985 und damit unter dem Eindruck einer Welt der Ideologien getroffen worden, kaum zu dem Ergebnis gekommen wäre, in Zukunft würden kulturelle Faktoren das Weltgeschehen bestimmen. Genausowenig kann heute jemand garantieren, daß die Zurückbesinnung auf die gemeinsame Kultur in dem Maße fortgeschrieben wird, wie sie seit 1990 zu beobachten war. Einige Anzeichen (drohende Handelskriege zwischen den USA und China, Japan und der EU) sprechen bereits dafür, daß wirtschaftliche Streitfragen, von Huntington als eher sekundäre Begleiterscheinungen abgetan, erheblich an Bedeutung gewinnen könnten. Überhaupt mißt Huntington ökonomischen Belangen einen überraschend geringen Stellenwert bei. Er zitiert wirtschaftliche Daten, als lebten wir nach wie vor im Zeitalter reiner Nationalökonomien und nicht in einer Ära der wirtschaftlichen Verflechtung, in der etwa deutsche Firmen wie Daimler-Benz zu einem großen Teil arabischen Anlegern gehören und in der westlichen Spekulanten ganze Volkswirtschaften (sowohl in Europa als auch in Asien) zum Wackeln bringen können. Ziemlich unseriös erscheint auf dieser Grundlage auch das oben vorgestellte Kriegsszenario, das ohnehin einige logische Brüche und Auslassungen (wie z.B. die vollständige Ignorierung der israelischen Kernwaffen) aufweist. Der (ebenfalls spekulative) Verdacht liegt auf der Hand, daß hier ein knalliges Szenario kreiert werden sollte, das auch weniger politisch Interessierte zum Kauf des Buches animiert. Eine Taktik, die angesichts seiner wochenlangen Plazierung in der Bestseller-Liste durchaus aufgegangen ist. Aber auch weitere Aussagen aus dem letzten Viertel des Buches erscheinen fragwürdig. So beschwört Huntington unter einer deutlichen Absage gegenüber dem Gedanken des Multikulturismus eine Rückbesinnung der US-amerikanischen Gesellschaft auf ihre Verwurzelung in der westlichen Gemeinschaft. Ganz abgesehen davon, daß seine Behauptung, ein paar wenige Intellektuellen hätten die Stärkung multikultureller Bewegungen in den USA zu verantworten, deutlich im Widerspruch zu einer von jeher starken Ghettobildung schwarzer, hispanischer und asiatischer Minderheiten steht, kollidiert seine Forderung auch mit den Überlegungen, die er selbst in bezug auf globale kulturelle Entwicklungen angestellt hat. Wenn die Kultur der Macht folgt, dann ist es nur selbstverständlich, daß sich die kulturelle Orientierung der USA in dem Maße ändert, in dem Menschen, die ursprünglich nichtwestlichen Kulturkreisen entstammen (z.B. Latein- und Afroamerikaner), an gesellschaftlichem Einfluß gewinnen. Warum hier plötzlich die doch noch zuvor als fast naturwissenschaftlich zwingende kulturelle Entwicklung an Hegels Satz von der Bestimmung des Seins durch das Bewußtsein scheitern können soll, läßt er offen. Im Verbund mit der, allerdings aus Sorge vor schwindender Macht des Westen artikulierten, Forderung, daß die USA vorerst die Abrüstung ausetzen solle, und einer grundsätzlichen Fixierung auf die USA bei gleichzeitiger Geringschätzung Europas wirkt Huntingtons Analyse der Vereinigten Staaten eher von einer WASP-konservativen Gesinnung determiniert als durch wissenschaftliche Erkenntnis motiviert. Verstärkt wird dieser Eindruck, nach dem hier der Politologe zum Politpolemiker mutiert ist, auch durch Huntingtons reichlich populistische Betrachtung der internationalen Organisationen und durch den - einmal mehr - unsubstantiiert vorgetragenen Kulturpessimismus, der Huntington einen globalen Werteverfall und, zum reichlich pathetischen Ende, die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes der Kulturen gegen die Barbarei annehmen läßt.

Neben dieser grundsätzlichen Kritik an der Aussage der Buches in Hinsicht auf zukünftige Entwicklungen finden sich, wie es bei einem fast 600 Seiten starken Werk kaum anders möglich ist, auch immer wieder kleinere Eigentümlichkeiten, die den Leser grübelnd zurücklassen. So fragt man sich schon, warum er seine eigene scharfe Beobachtung, nach der die Islamisierung der letzten Jahre nur über die gleichzeitige Ersatzvornahme der sozialen Fürsorge für die Bevölkerung durch die Islamisten möglich wurde (S.171), nicht weiterentwickelt und (sich) die Frage stellt, ob die "Resurgenz des Islam" nicht vielleicht auf tönernen Füssen steht, die wegknicken, sobald die islamistischen Politiker sich nicht mehr nur auf vereinzelte Wohltaten beschränken können, sondern unter demokratischer Kontrolle ein Land führen müssen. Fragwürdig erscheint angesichts der hierzulande erfolgten dramatischen Medienberichterstattung und der sehr emotional geführten öffentlichen Diskussion über den Bosnienkonflikt, in denen letzten Endes die Bosnier sogar dann noch als leidende Opfer erschienen, als sie sich bereits mitten in der erfolgreichen Gegenoffensive befanden, auch Huntingtons Analyse, Bosnien habe aus Europa keine Unterstützung erfahren, da man dort Angst vor einem islamischen Staat auf europäischem Boden gehabt habe. Weiterhin behauptet er kühn in einem Nebensatz, der Laizismus wäre das "Schlechteste [..] des Westens" (S.287), was man als Bewohner einer weitgehend säkularen Republik doch gerne etwas genauer erläutert haben würde. Wieder auf Huntingtons Gleichgültigkeit gegenüber wirtschaftlichen Fragen dürfte seine Polemik gegenüber dem IWF (S.292) zurückzuführen sein. Denn dieser dient mitnichten dazu, anderen Ländern die Wirtschaftspolitik des Westens aufzuzwingen, wie Huntington unterstellt. Vielmehr nimmt er nur dann wirtschaftlichen Einfluß, wenn sich ein Land bei ihm Geld leiht - und daß derjenige, der als Bittsteller auftritt, gewisse Spielregeln akzeptieren muß, scheint nur logisch zu sein. Im übrigen hat sich diese Praxis schon desöfteren zugunsten eines nichtwestlichen Landes bemerkbar gemacht. Jüngstes Beispiel ist der "schlafende Elefant" Indien, dessen wirtschaftlicher Aufschwung gemeinhin den Reformen zugeschrieben wird, die durch den IWF initiiert wurden. Wenig überzeugend ist auch Huntingtons Umgang mit Statistiken. So glaubt er, anhand einer Tabelle die Neigung islamischer Gesellschaften zu aggressiven Konflikten belegen zu können (S.420). Die veröffentlichten Zahlen sind jedoch nur in islamische und andere Länder unterteilt. Da die Beteiligung nichtislamischer Kulturen an interkulturellen Konflikten bereits von der entsprechenden Kennzahl für die islamischen Länder miterfaßt wird - wie sich aus der Gesamtaddition zwingend ergibt - ist es durchaus möglich, daß eine andere Kultur mehr interkulturelle Konflikte zu verzeichnen hat als der Islam (wenn diese Kultur beispielsweise an 15 der 21 interkulturellen Konflikte des Islam, sowie zusätzlich an 7 der insgesamt 10 "anderen" interkulturellen Konflikte beteiligt war). Wie so oft liegt auch hier die Aussage der Statistik sozusagen in der Hand des Statistikers. Eher in den Bereich der Skurillität dürften hingegen die (angesichts der derzeitigen politischen Situation so auch nicht mehr unbedingt zutreffende) Bezeichnung des "französisch-deutschen Kern"s als "Kernstaat" in Europa (S.211), die Zuweisung einer Führungsrolle Südafrikas innerhalb Südafrikas (S.213), die Verwendung des Ausdrucks "AntiSEMITISMUS gegen Moslems" (S.320), die Behauptung, die EU habe im Dezember 1993 der Türkei mitgeteilt, man könne über deren Beitrittsgesuch frühestens 1993 (!) beraten (S.229) und die Verwendung der dritten Person, als Huntington über eine Erkenntnis Huntingtons schreibt (S.484), fallen.

Definitiv nicht verantwortlich ist er aber schließlich für einige Ergänzungen, die sein Übersetzer Holger Fliessbach, der seine Arbeit ansonsten sehr gut gemacht hat, überflüssigerweise dem Text hinzufügte. So hielt Fliessbach es beispielsweise für erforderlich, die Namen der beiden lateinamerikanischen Staaten, die ihre Atombombenprojekte eingestellt haben, ausdrücklich zu nennen oder Wittfogels These vom "hydraulischen System" zu erklären (S.98) - als wäre der deutsche Leser insoweit dümmer als der US-amerikanische. Das alles soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der "Kampf der Kulturen" - alleine schon wegen der brillianten politischen Analyse der jüngeren Geschichte und der Gegenwart - ein äußerst lesens- und empfehlenswertes Buch ist. Zum Abschluß soll jedoch noch erwähnt sein, daß trotz der großen Medienresonanz Huntingtons Werk so neu nicht ist. Den Versuch, vermeintlich wiederkehrende Entwicklungen aus der Geschichte in die Zukunft fortzuschreiben und daraus ein politisches Modell zu entwickeln, haben schon unzählige Gelehrte unternommen - und genausoviele sind auch daran gescheitert. Karl Marx als einer derjenigen, dessen Thesen dabei gar nicht mal so unzutreffend waren, soll hier nur als ein Beispiel von vielen genannt sein. Und selbst Huntingtons "Kultur-Knall"-Kriegsszenario ist schon vor mehreren hundert Jahren vorweggenommen. Genau wie der Havard-Professor prophezeite damals ein anderer Denker eine um das Jahr 2000 stattfindende Auseinandersetzung zwischen einer russisch-amerikanischen Allianz und China, bei der es in Frankreich zu atomaren Verwüstungen kommen würde. Sein Name war Nostradamus.

(c) by Andreas Neumann

"Ohne die USA wird der Westen zu einem winzigen, weiter schrumpfenden Teil der Weltbevölkerung auf einer kleinen, unwichtigen Halbinsel am Rande der eurasischen Landmasse." -- Samuel P. Huntington, "Kampf der Kulturen", S.504f

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