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ECM dominates the world

Und die Erde ist eine Scheibe

Multitalente häufen sich immer wieder. Multi-Kulti ist die offizielle Nicht-Kultur der Gegenwart. Außereuropäische Kultur und die Ignoranz ihr gegenüber scheinen zwei Begriffe zu sein, die einander seit Rousseaus Zeiten bedingt haben. Der Mensch eignete sich das Fremde über die Vergangenheit an. Der Konflikt wurzelt in uns seit dem Beginn des menschlichen Bewußtseins, doch: Im Zeitalter globaler Mobilität und geistiger Orientierungslosigkeit gilt nichts etwas, das etwas gegolten hat. Und trotzdem gehen wir zurück zu den Ursprüngen - die sokratischen Fragen, ein bronzezeitlicher Animismus und Adams` elektronisches I Ging schließen einander nicht aus. Schuld ist die Moderne und ihr objektiver Blick, der anfangs - Musterbeispiel: Werner von Siemens - einen exorbitanten Optimismus zur Schau trug. Vorläufiger Höhepunkt des Ganzen ist das Ende der Geschichte und der Tod des Subjekts. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als in den Substraten der Sinnstiftung, mit welchen der Mitteleuropäer einen nicht zu vernachlässigenden Teil seiner Freizeit gestaltet. Um das Kind beim Namen zu nennen: ohne Esoterik-Artikel ist man heute kein Mensch mehr.

Was ist passiert? Es muß von der vulgär-publizistischen Haltung abstrahiert werden, die das Lebensgefühl der angeblichen "Generation X" definiert und den Verlust des Selbstwertes auf den Kosmos projiziert und damit eigentlich in Kategorie V der "acht Todsünden der zivilisierten Menschheit" gehört. Vielmehr hat der Mensch mit seiner Bezogenheit zur Natur in der Urbanisierung und Technisierung auch einen Teil seiner Selbst irgendwo brachliegen lassen. Unsere Bedürfnisse, einmal als manipulierbar erwiesen, sind suspekt geworden, die Historie im Prozeß des cocooning abgeschnitten und zugleich ist der Mensch unwiderruflich aus dem Bewußtsein der Selbstverständlichkeit gestoßen. Mit der Selbstständigkeit ist auch das Selbst reduziert, mit der Geschichte auch die Identität. Wenn alle Zeichen ihre Bedeutung verlieren, sucht man sich neue, ohne ihnen je klar definierten Sinn zuzusprechen. So schützt man sich vor weiterer Enttäuschung. Wahrheitsfindung ist ein schmerzlicher Prozeß. So hat sich ein erfreulich großer Gesellschaftsteil einst dem Osten zugewandt, um sich selbst wiederzufinden. Aber Kafka hatte recht: Wer sucht, findet nicht. So fand Mensch nur sich selbst; seine Erwartungen, Vorurteile und Projektionen. Buddhistische Philosophie ist in aller Munde, Zen von Westlern okkupiert und der Synthie dem Didgeridoo oktroyiert. Die Illusion ersetzt in ihrer Subjektivität die Realität so konsequent, daß sie nicht mehr an sich selbst scheitern kann. Und der Ausverkauf fernöstlicher Unterhaltungs-Rohstoffe geht weiter. Und dieser Identitätsverlust wird mit unwiderstehbarer Gewalt herbeigeführt und mit selbstquälerischer Leidenschaft ausgekostet. Das Subjekt sucht sich seine Kultur, seine Symbole und seinen Lebenszweck. Wie sehr diese Beobachtung zutrifft, daß nämlich der entwurzelte und entgrenzte Mensch der Zeitgeschichte seine Identität nicht findet, sondern mutwillig sucht, zeigt innerhalb des Esoteriktrips keine Entwicklung unabweislicher als die populärmusikalische. Wir haben unseren Horizont geweitet - nachdem unsere kulturelle Identität nicht mehr hielt. So kommt es, daß sich nicht mehr einige, sondern so gut wie alle Merkmale der Europäischen Unterhaltungsmusik, des Rock, des Rock`n`Roll, der Klassik, des Jazz, der indischen Musik und was die Welt sonst noch bietet, in einem wiederum streng eurozentrischen bis rassistischen Konglomerat einweicht, dessen Begleittexte die eigene Larmoyanz verewigen. Ein Heer verhinderter Selbstplagiatoren, deren musikalisches Fingerspitzengefühl sich vornehmlich im Abzählen der Einnahmen erschöpft. Enigma, Vangelis, Dennis Hart oder Cusco mögen als Exponaten dieser kulturellen Raubüberfälle in fremde und oft ehrwürdig alte Musikkulturen wiederum genannt sein. Wo vordem mitleidige Verachtung dominiert, findet sich heute eine auf Schauwerte fixierte Supermarkt-Mentalität: alles ist bunt, exotisch, interessant. Aber wenn alles gleich-gültig ist, muß es auch gleichgültig sein. Von Identität keine Spur.

Dieser Umstand ist unzweifelhaft, aber zuallererst gar nicht kritisierbar. Die borgouise Klassik ist gesellschaftlich out. Geistliche Musik kommt wieder, aber in einem ebenso suspekten Kontext wie vorher, nur mit anderen Vorzeichen. Die 180° Drehung in das andere Extrem ist uns, scheint`s, als allerletzes angeboren. Und auch der Rock`n`Roll wird nur durch längst tote Überväter a la Elvis oder die letzten Monomanen ihrer Zunft, die trotz dem mittlerweile lebenslangen Versuch, ein kommerzielles Image gar nicht erst zuzulassen und trotzdem von der Kunst ganz gut zu leben, womit der Name, es handelt sich um den nicht etwa zeitlosen, sondern im Alter nur noch besser werdenden und der ganzen mühsam nachkriechenden Schar der nächsten Generation die Qualitäten diktierenden Neil Young, am Leben gehalten. Das sollte heute eigentlich außer Arvo Pärt niemanden mehr aufregen.

Das Leben ist zu kurz, um sich mit der falschen Musik berieseln zu lassen. In diesen Wochen liegt das neueste Werk von Stephan Micus vor, "The Garden Of Mirrors". Und da die Literatur über ihn nicht existent ist, muß man sie eben selbst zur Verfügung stellen. Im folgenden eine mit Respekt und Sympathie verfaßte Rezension seiner neuen Scheibe.

Stephan Micus ist der bedeutendste deutsche Musiker der Gegenwart. Diese Stellung untermauert "The Garden Of Mirrors" eindrucksvoll, eine neue Blüte im mit Besonderheiten randvollen ECM-Katalog. Nach den Alben von Bjørnstad, Wheeler und Lloyd nun das nächste unauffällige Meisterwerk.- Man könnte Micus für einen Opportunisten halten, einen, der im Sommer des Eso-Kitschs eine kurzlebige Blüte am Zweig der musikalischen Publikation darstellen will. Nichts ist falscher. Denn kein Musiker überschreitet in der gegenwärtigen Zeit die Grenzen zwischen musikalischen Stilen so gekonnt wie Stephan Micus. Zumeist wird er unter Jazz katalogisiert - eigentlich eine Farce, denn niemand ist so eigenständig in seiner Musik wie er, und doch richtig. Denn Micus` Musik läßt sich nur aus der Jazzgeschichte des letzten Vierteljahrhunderts verstehen. Hören läßt sie sich auch so: wer das kann, tue es. Nichts spricht für den Mann besser als er, durch seine Musik, in ihrer ganzen Unaufdringlichkeit und Tiefe.

Auf "The Garden of Mirrors" erschließt Micus die ältesten Instrumente Afrikas: das Bolombatto, eine Art Harfe aus einem Klangkörper mit vier Sehnensaiten, und das Sinding, eine etwas kleinere Form des Instruments mit fünf Baumwollsaiten. Damit erzeugt er die vielleicht tiefsten Töne, die man einem Saiteninstrument entlocken kann. Hier versucht er, bis zu den Wurzeln des Jazz vorzustoßen:

"...they`re like a primitive bass. As I played these harps I automatically felt closer to the roots of black African music. The way black American musicians have used the double bass in jazz has its roots in these harps."

Micus betreibt damit etwas wie eine Rückkopplung. Denn die Erschließung der außereuropäischen Musik ging Anfang der 70er vom Jazz aus. Seit John Coltrane - may his soul be blessed - öffnete sich der Jazz und erst dann die Welt fremden Musikkulturen. Dazu gehören Namen wie Coltrane, McCoy Tyner, Don Cherry, John McLaughlin. Nicht nur Indien war das Ziel aller Träume, sondern die Welt in ihrer Komplexität, Schönheit und Widersprüchlichkeit. Nur der Jazz war zu dieser Öffnung bestimmt, und zwar aufgrund der Musiker. Viele studierten fremde Musiken und ihre Kulturen, so auch Charlie Mariano, Collin Walcott und Stephan Micus. Micus, geboren 1953, er-lebt und er-hört diese Welt durch ihre Musik seit seinem 16. Lebensjahr. Und alle stellten sie ausnahmslos eines fest: Diese Welt war nicht fremd. Überall trafen sie bekanntes, begegneten sie sich selbst wieder. "The Garden of Mirrors" wurde schon damals erkannt. Stellvertretend faßte dies vielleicht Collin Walcott zusammen: "Es war jeweils nur ein ganz kleiner Schritt von einem zum anderen." Jedenfalls was die Substanz betrifft. So auch Ed Thigpen: "...irgendwie hab ich das alles gekannt. Als sei es immer schon in mir gewesen." Da spricht noch leiser Vorbehalt. Und so entwickelte sich die world united in der Musik dialogisch. Die Musiker trafen auf Musiker und gestalteten den kulturellen Dialog musikalisch - einzigartig, und einzigartig erfolgreich. Gruppen wie Codona, Shakti, Old and new dreams oder Oregon sind stellvertretend für alle anderen. Individuelle Begnungen, wie zwischen Ali Akbar Khan und John Handy, Tony Scott und Hozan Yamamoto oder Jan Garbarek und pakistanischen Musikern um Ustad Fateh Ali Khan lieferten repräsentative Meilensteine. Von Anfang an war ECM maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt, durch viele schon genannte Namen: Cherry, Walcott, Codona, Nana Vasconcelos, L. Shankar, Zakir Hussain.

Daß Stephan Micus seit 20 Jahren seine Musik spielt, verweist auf die geglückte Integration der Welt in der Musik, eigentlich müßte man wirklich sagen: im Jazz. Aber nicht nur Jazzmusiker entdeckten die Welt - die Welt entdeckte den Jazz. Die interkulturellen Begegnungen sind rar geworden, denn Musiker verschiedener Kulturen haben sich nicht nur einen, sondern verschiedene Stile zueigen gemacht. Der Jazz ist insofern nicht nur die bedeutendste Errungenschaft Amerikas dieses Jahrhunderts, sondern nunmehr auch der Welt.

1977 stieß Micus mit seiner ersten Platte dazu. Und bis heute kann ihn niemand in Frage stellen; der einzige, der es vielleicht könnte, Collin Walcott, starb 1984 bei einem Autounfall. Micus hat ein so weitreichendes Hintergrundwissen wie kaum ein Musiker oder sonst jemand. Er studiert die Kulturen nicht einfach intellektuell. Er erlernt ein Instrument, und damit verbunden eine instrumentale und kulturelle Tradition. Das führt bis zu der Kleidung, bis zum Lebensrhythmus und dem Essen. Das Ergebnis ist nicht etwa Imitation. Hierfür sprechen die Modifikationen, die er an alten und neuen Instrumenten vornimmt, deutlich genug. So erweiterte er die Sho, ein japanisches Blasinstrument um extra tiefe Töne, spielte auf einer 10- bzw 14saitigen Gitarre und - Blasphemie schlechthin - musiziert auf Blumentöpfen. Micus großer Verdienst ist es, verschiedene Instrumente auf ihre Synthesefähigkeit hin zu prüfen: er stellt die in neue Kontexte, indem er sie zusammenbringt. Das Ergebnis ist kein Synkretismus, sondern eine Idiosynkrasie. Wer Zweifel hat, möge sich sein Spiel auf einer bayrischen Zitter anhören. Micus läßt jede stilistische Tradition hinter sich und schafft seine eigene Musik. Der Klang der Zitter ist von dem des eurasischen "hammered dulcimer" nicht zu unterscheiden. Hier vollzieht sich die konsequente nächste Stufe der Weltmusik-Bewegung: da musiziert ein Mensch, der nicht mehr für eine Kultur spricht, sondern für viele, für alle, für die Welt. Das Bild von Micus mit dem Bolombatto ist eindeutig: weiter können ein Mensch und sein globusförmiges Instrument nicht zur Einheit werden. Konsequent heißt der erste Titel: Earth. Das trennt diese Musik fundamental von der Popmusik, wo nur musikalischer Raubbau, Exotik-Schau und hörbarer Schaufensterkitsch verbreitet werden - als merkantil verbrämte Lippenbekenntnisse.

Trotzdem muß man einwenden: indem Micus alle Instrumente selber spielt und dann zusammenlegt -stilisiert er da nicht und verfremdet? Zweifelsfrei ist Micus derjenige, der die Technik des Multi-tracking mit seinen 30-Minuten-Stücken bis an ihre Grenzen getrieben hat. Doch wer die Musik hört, verkneift sich die Frage. Micus Arbeitsweise bewirkt das Gegenteil von Manieriertheit. Für ihn ist die strenge Disziplin das Sprungbrett, von dem aus Spontaneität, Intuition und Improvisation ihren Weg finden. Micus spielt auch Solo, hier programmatisch "Mad bird". Und hin und wieder, wie diesen Winter in Palermo und München, gibt er auch ein Konzert. Und im Gegensatz zu dem zweiten entscheidenden Musiker deutscher Herkunft, nämlich Deuter, zeichnet sich Micus durch eine bestechende Klarheit und Schlichtheit aus, während Deuter seine Arrangements manchmal überlädt. Weichgespülte Synthesizer-Teppiche sind fern. Davor bewahrt Micus die Verwendung rein akustischer Instrumente. Denn Natur ist die Kultur des Menschen. Bequem ist dieses Musizieren wohl nicht, weder für Komponist und Hörer. Aber so konzentriert wie Micus arbeitet über einen Zeitraum von 20 Jahren kein anderer. Das qualifiziert seine Werke. Wirklich begeisternd ist das Zusammenwirken von ganz physischen Klängen und dem spirituellen Wesen dieses Musizierens bei aller vermeindlicher Sterilität, die Ergänzung von Intensität und Ruhe. Micus bezeichnet dieses Album als sein vielleicht perkussivstes. Einschläfernde Klangteppiche, die den Zuhörer auf Wolke sieben des Wunschdenkens von den Sorgen der Welt heben, kennt er nicht. Statt dessen sogar westkaribische Stahltrommeln, dazu eine irische Flöte, balinesische Blasinstrumente, 20 Stimmen. Die Welt wird flach. Vorne Mitte steht ECM drauf. Darunter - kleiner geht's nicht - der Name des Komponisten und des Albums. So tritt der Musiker völlig hinter seiner Musik zurück. Man achte nur auf das Arrangement für sechs Shakuhachi: "Words of truth". Auf "Garden of mirrors" bietet er also tiefschwarze (jaja, oder farbige...) Musik. Dazu seine einzigartige spröde Stimme. 1981 rechtfertigte er sich noch: "The words I thing don`t carry any known meaning. Therefore.." Nun werden nicht nur die Räume überschritten, auch die Zeit. Die Musik erklingt archaisch, wie ein uraltes Ritual, trotzdem frisch und frei. Albert Schweitzer brachte Bach in den Gabon. Jetzt bringt Micus die Musik Schwarzafrikas zurück. Dabei ist das Bemühen um Aktualität Muß:

"My music reflects the contemporary world, where one can travel easily and experience different cultures, or just go into a store and find examples of all these different musics."

Micus` Musik ist kein Selbstbedienungsladen. Auf diese Musik muß man sich einlassen. Sie braucht viel Aufmerksamkeit und Sensibilität. Aber das wird jeder Hörer merken. Und in seinen Gesängen zelebriert Micus den Atem. Teilweise wirken gerade die Vokalsätze etwas harmonisiert, geschönt, s chmeichelnd. Letztlich fragt Micus nur eins: was macht das Leben lebenswert? Er weiß es selber wohl sowenig wie Collin Walcott, der sagte, manchmal fühle er sich in der Weltmusik Zuhause, manchmal wie ein Dilettant. Auch Micus löst die Schere in unserem Kopf nicht auf. Aber Menschen wie er sorgen dafür, daß sie nicht vergessen werden kann, nicht stumpf wird, sondern im Bewußtsein bleibt. Und es kommt immer auf die gelebte Zeit an. Und daß die Musik für das falsche Leben zu lang ist, hatten wir schon. Micus spricht hier von einem weiten Horizont, er ist die "passierende Wolke", und zugleich jubelt er und hängt er tiefer Melancholie nach. Trivialkultur sagt: der Soundtrack für einen Thor-Heyerdahl-Memory-Film. Aber es stimmt: You can`t buy a ticket to paradise. Doch mancher scheint näher daran zu sein, es zu finden. In sich. Aber es stimmt nicht, daß diese Erfahrung nicht weitergegeben werden kann. Sie kann nicht rationalisiert werden. Aber ein Musiker ist nur so gut wie sein Publikum. Stephan Micus hört sich in der Entwicklung seiner Musik genug zu. Aber dies ist auch die Verantwortung des Publikums, die spezifisch für den Jazz ist. Hören wir die Musik. Wem das zu prätentiös ist: Stephan Micus ist der Beweis, daß Schönheit nicht dumm ist und Intelligenz nicht Selbstzerstörung bedeutet. Damit ist er wahrlich einzigartig.

Ein Johannes Strauß Pamphlet

© 9. 11. 97


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