Plattenlabel : | Bernd Giezek Records |
Genre : | Rock |
Spieldauer : | 72:51 min |
Preis : | 30 DM |
Bezugsquelle : | Jürgen Handke; Bergblick 6; 35043 Marburg (zzgl. 5 DM P&P) |
Was macht ein am Institut für Anglistik beschäftigter Universitätsprofessor und Spezialist für Computerlinguistik in seiner Freizeit ? Als Antwort mag alles mögliche plausibel erscheinen, nicht jedoch das, was der in Marburg lehrende Prof. Dr. Jürgen Handke seit 1994 betreibt. In diesem Jahr hat das ehemalige Mitglied der Hannoveraner Rockformation "Deadlock" nämlich das "Jethro Tull Music"-Projekt auf die Beine gestellt. Darin betreibt er nach eigener Definition die "Synthese von Mensch und Maschine". In der Praxis sieht das so aus, daß Handke Stücke der britischen Alt-Rocker in seinem Computer, schändlicherweise einem Pentium mit 16 MByte RAM und "Windows" 3.1, MIDI-tauglich aufbereitet hat, zum vom Rechner produzierten musikalischen Grundgerüst diverse Instrumente selbst spielt und vor allem auch den Gesangspart übernimmt. Eine zeitlang hat er diese künstlerische Tour de Force auch in erstaunlicher Perfektion auf diversen Bühnen (vornehmlich in Pubs) quer durch die ganze Bundesrepublik gebracht - doch Anfang November diesen Jahres beendete er das in Marburg mit einem "Last Concert". Da trifft es sich für den neugierigen Musikliebhaber gut, daß seit etwa einem Dreivierteljahr ein Zwischenergebnis dieses außergewöhnlichen Experimentes auch auf CD bewundert werden kann. Im eigenen Heim hat Handke dafür eine Silberscheibe mit seinen Interpretationen einiger "Jethro Tull Classics" bespielt.
Die Zusammenstellung der Titel ist eine bunte Mischung aus allen Epochen, die "Jethro Tull" in ihrer langen Karriere bisher durchlebten. Dabei hat sich Handke nicht unbedingt auf die populärsten Stücke konzentriert, sondern durchaus auch einmal Tull-Songs eingespielt, die sonst nicht zum üblichen Konzert- oder Sampler-Repertoire der Band gehören. Doch natürlich sind neben solchen ansonsten eher selten zu hörenden Stücken wie dem Blues-Rock "Sleeping With The Dog" vom ewig unterbewerteten "Catfish Rising"-Album, "Orion" vom 79er Album "Stormwatch" oder der doch eher schwachen Ballade "At Last, Forever" von jüngsten "Tull"-Studioalbum "Roots To Branches" (vgl. Rezension in "AmigaGadget"#22) auch die meisten der "Jethro Tull"-Standards auf Handkes CD vorhanden: "Aqualung", das besonders in den Staaten populäre "Teacher", "Locomotive Breath" und natürlich die Bach-Variation "Bourée", der Handke richtigen Drive verpaßt hat. Erfreulicherweise hat er sich bei der Wahl zwischen den beiden Ein-Stück-Konzeptalben "Tull"s nicht für das populärere (und demzufolge auch in schon weitaus zahlreicheren Varianten eingespielte) "Thick As A Brick" entschieden. Während er dieses nur bei seinen Live-Auftritten zum besten gab, findet sich auf seiner CD eine zehnminütige Version des düstereren und anspruchsvolleren "A Passion Play". Als reizvoll erweist sich auch die Verbindung zweier Songs von den beiden Alben aus "Tull"s melodiöser Folk Rock-Phase Ende der siebziger Jahre - mit einigem Geschick kombiniert der musizierende Professor das nicht jugendfreie "Songs From The Wood"-Stück "Hunting Girl" mit dem Titeltrack vom "Heavy Horses"-Album. Stilvoll endet die CD nach beeindruckenden zweiundsiebzig Minuten mit dem Stück, mit welchem "Jethro Tull" selbst das Ende der Konzerte ihrer aktuellen Welttournee markierten. Allerdings dichtete Jürgen Handke den Text von "Cheerio" situationsgerecht ein wenig um - statt "I'll pour a cup to you my darling" heißt es bei ihm "I'll pour a coup to you my audience".
Derjenige, der Wert auf Authenzität legt, wird mit den "Jethro Tull Classics" so seine Probleme haben. Denn man weiß nie genau, ob ein bestimmter Klang nun auf einem realen Instrument oder doch "nur" in den Eingeweiden eines Computers erzeugt wurde. Laut dem Booklet spielte Handke Flöte, Saxophon, akustische Gitarre, Cello und "Blues Harp" - was immer das auch sein mag (Mundharmonika ?). Das bedeutet aber natürlich noch lange nicht, daß etwa auch jede auf der CD zu hörende Flöte eine reale sein muß. Bei den Passagen, die aber wohl tatsächlich nur ein Mensch gespielt haben kann (in denen z.B. die Atemtechnik sich auf den Klang hörbar auswirkt), erweist sich Handke als exzellenter Musiker, der seine Instrumente im Griff hat. (Wenngleich man auf das Saxophon außerhalb der Stücke aus der Blues-Epoche auch durchaus hätte verzichten können.) Gleichzeitig kann die computergenrierte Musik ebenfalls weitgehend überzeugen - wobei es hier natürlich von Instrument zu Instrument qualitative Unterschiede gibt (während die Tasteninstrumente sehr überzeugend klingen, merkt man dem Schlagzeug doch ab und an den synthetischen Ursprung an). Einen echten Qualitätsverlust gibt es allerdings beim zweitwichtigsten "Tull"-Instrument zu beklagen. Wo im Original Meistergitarrist Martin Barre seine E-Gitarre malträtiert, versucht sich hier der Pentium an einem billigen Imitat. Wohl mit ein Grund dafür, daß Handke bei der Auswahl seiner Stücke größtenteils solche gewählt hat, in denen der E-Gitarre eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Ein wenig kompensiert wird das von der durch den Computer eröffneten Möglichkeit zur Einbindung diverser Soundsamples - so erklingt beispielsweise das Bellen eines Hundes nicht nur (wie im Original) bei "Sleeping With The Dog", sondern auch schon bei "Aqualung". Da das geschickt in die musikalische Struktur eingebettet geschieht, stellen die Samples eine einfallsreiche kreative Ergänzung der Originale dar. Als sehr erfreulich erweist sich auch Handkes Gesang. Auf manchen Stücken (z.B. bei "Minstrel In The Gallery") gelingt es ihm sogar, in Timbre und Akzent Ian Anderson zum Verwechseln ähnlich zu klingen. Dabei ist er, Ironie des Schicksals, inzwischen wohl sogar der bessere Sänger - wer in jüngster Zeit mal ein "Jethro Tull"-Konzert miterlebt hat, wird um Andersons nicht zu überhörende Stimmprobleme wissen.
Das Booklet der CD ist, wie für derartige kleinere Produktionen wohl üblich, eher spartanisch - außer ein paar wenigen Fotos und diversen Angaben zu CD und Künstler ist auf den gerade mal vier Seiten nichts zu finden. Lediglich auf der Rückseite der CD gibt es was fürs Auge - neben einer Morphing-Verwandlung des Konterfeis von Bandleader Anderson in das des Marburger Anglisten bekommt man hier auch zu sehen, woher der Name "Jethro Tull" ursprünglich stammt. Doch natürlich will diese CD nicht mit äußerlichen Reizen locken. Sie ist vielmehr für "Tull"-Fans interessant, die sich für auch mal bewußt vom Original abweichende Interpretationen des "Jethro Tull"-Repertoires begeistern können. Und in dieser Hinsicht bekommen sie auf dieser faszinierenden CD einiges geboten. Ganz davon abgesehen stellen die "Jethro Tull Classics" eine "Best Of"-Kompilation dar, die die Band so wohl (leider) selbst nie zusammenstellen würde - alleine schon wegen des weitgehend in Vergessenheit geratenen "A Passion Play". Zum Kennenlernen der Musik "Tull" ist die CD hingegen wohl nicht so gut geeignet. Die Musik der Band ist in der Realität doch deutlich gitarrenlastiger, als man nach dem Hören von Handkes CD annehmen würde. All diejenigen, die an eigenwilligen und mutigen Interpretationen, wie sie zum Beispiel auch schon auf der "Tull"-Tribut-CD aus dem Hause Magna Charta (vgl. Rezension in "AmigaGadget"#26) zu hören waren, Gefallen finden, können sich die Handke-CD jedoch ohne Bedenken als Leckerbissen auf der langen Hungerstrecke bis zum nächsten "Tull"-Original im Herbst 1998 zu Gemüte führen.