politik

Die Freiheit frißt ihre Kinder

- ein Kommentar zum Großen Lauschangriff

Das neue Jahr war noch jung, da fuhr schon ein mächtiges Lauschen durch den deutschen Blätterwald. Chefredakteure horchten auf, Feuilltonisten legten ihr Ohr an den Puls des Zeitgeistes, die Redakteure der Politik-Ressorts spitzten ihre Lauscher und ihre Stifte. Doch das, was da Kolumnen und Kommentare, Titelgeschichten und Hintergrundberichte füllte, war eigentlich ein alter Hut. Schon seit Jahren tönte die Debatte um den "Großen Lauschangriff" aus Parlamentsausschüssen, Parteitagen und Redaktionsstuben. Doch plötzlich, still und leise, war aus dem Schreckgespenst für jeden sich öffentlich produzierenden Bürgerrechtler ein verfassungsänderndes Gesetz geworden und der verdutzten Presse ging auf, daß in Zukunft möglicherweise der freundliche Herr vom Bundeskriminalamt ein vermeintlich vertrauliches Informantengespräch mitanhören könnte. Was war passiert ?

Schon seit geraumer Zeit fordern Polizei und konservative Innen- und (im wahrsten Sinne des Wortes) Rechts-Politiker unisono die Möglichkeit der technischen Wohnraumüberwachung, um so den Sicherheitsbehörden im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität zu helfen. Ein solcher "Lauschangriff" zu Zwecken der Strafverfolgung und Beweiserhebung war aber mit geltendem Verfassungsrecht nicht vereinbar - erlaubt das Grundgesetz in Artikel 13 doch nur Eingriffe in die Unverletzlichkeit der Wohnung "zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung". Es mußte also eine Verfassungsänderung her, wollte man der Mafia künftig mit Wanzen und Richtmikrophonen auf den Pelz rücken. Einer solchen standen jedoch lange Zeit sowohl die F.D.P. als auch die SPD im Wege. Aber nachdem sich die konservativen Kräfte im Vorstand der Freidemokraten geschickt durch eine Mitgliederbefragung, ganz so als sei der "Lauschangriff" ein bedeutsameres Thema als die deutsche Wiedervereinigung oder die europäische Integration, von der Basis die Unterstützung zur Ignorierung entgegenstehender Parteitagsbeschlüsse beschafft hatten und so unter anderem die rührige F.D.P.-Jusitzministerin Leutheusser-Schnarrenberger zum Rücktritt zwangen, und die SPD, getrieben von Fraktionschef Rudolf Scharping und in der Befürchtung, im Falle einer Totalverweigerung von den Law & Order-Kampfhunden der Regierungskoalition im Wahlkampf einmal mehr als Sicherheitsrisiko für Deutschland gebrandmarkt zu werden, den ins rote Lager konvertierten ehemaligen GRÜNEN-Spitzenmann und RAF-Verteidiger Otto Schily als "Minenhund" ("Die Woche") ausschickte, um der Partei die Überquerung des politischen Todesstreifens auf dem Weg zu einer tragbaren Lösung in der Sache zu erschnüffeln, ging es mit der (Re)-Reform, anders als mit beinahe allen anderen Projekten der Bundesregierung, plötzlich schneller voran als es gar die Polizei erlaubte. Sand ins Getriebe der Gesetzesmaschinerie kam erst Ende 1997, als das verfassungsändernde Gesetz schon so gut wie spruchreif und die Mehrheiten mühsam zusammengesucht worden waren - also viel zu spät. Einige der ausgemachten Mängel im Begleitgesetz, nach dem ursprünglich auch die kirchliche Beichte nicht mehr nur Gott sondern auch interessierten Staatsschützern rechtmäßig zu Gehör hätte kommen können, konnten zwar noch beseitigt werden. Alles in allem stießen die Kritiker jedoch in Bonn ausgerechnet bei den Befürwortern des staatlichen Lauschens auf taube Ohren. Spannend wurde es dann nochmal, als das kleinste Bundesland, der Stadtstaat Bremen, plötzlich sein rechtsstaatliches Gewissen zu entdecken glaubte, und das - vom Bundestag bereits verabschiedete - verfassungsändernde Gesetz im Bundesrat, der Länderkammer, bei einer (für Fälle der Uneinigkeit im Koalitionsvertrag vorgesehenen) Enthaltung der schwarz-rot geführten Hansestadt zu scheitern drohte. Doch einen Tag vor der entscheidenden Abstimmung konnte Henning Scherf, Regierender Bürgermeister Bremens und Rebell auf Probe, auf Koalitions- und Parteilinie gebracht und die Zustimmung des Stadtstaates zur Änderung von Art. 13 GG gesichert werden. Ironie am Rande - während der Ungewißheit über das Abstimmungsverhalten Bremens schimpften gerade die CDU-Politiker, die sich ansonsten immer über die angeblich so eisern geschlossene Blockadefront der SPD-Länder im Bundesrat erregen, über die Tatsache, daß Parteichef Lafontaine seine Mannen nicht per Führerbefehl auf Kurs bringen könne. Als Zugeständnis an Scherf und die außerparlamentarische Kritik an der Einführung des "Lauschangriffes" beschloß der Bundesrat mit der Mehrheit der SPD-geführten Bundesländer jedoch direkt im Anschluß an die Zustimmung zur Verfassungsänderung die Anrufung des Vermittlungsausschusses im Gesetzgebungsverfahren des Begleitgesetzes, mit dem die einfachrechtlichen Voraussetzungen des "Großen Lauschangriffes" in das Strafprozeßrecht eingeführt werden sollen. Damit will Lafontaines bunte Truppe im Verein mit den GRÜNEN und auf rechtsstaatlich gesinnte Abtrünnige aus den Reihen der F.D.P. hoffend vor allem dafür sorgen, daß nicht nur das Belauschen von Geistlichen, Abgeordneten und Strafverteidigern, sondern auch von anderen Anwälten, Journalisten und Ärzten durch einfaches Gesetz verboten wird. Das Grundgesetz ist jedoch geändert - und der "Große Lauschangriff" damit, eine immer noch mögliche Verwerfung des neuen Art. 13 GG durch das Bundesverfassungsgericht vorbehalten, nach geltendem Verfassungsrecht legitim.

War es das ? War das der "Lauschangriff auf die Verfassung", wie "Die Woche" titelte ? Oder der von einer "großen Koalition gegen den Rechtsstaat" betriebene "Lauschangriff auf die Pressefreiheit", wie der "SPIEGEL" in einem reichlich selbstmitleidigem Titelthema bangte ? Wird nun doch noch das "Big Brother"-Szenario aus Orwells "1984" wahr ? Oder schafft die Grundgesetzänderung nicht vielmehr die "schöne Situation [..], daß die Verbrecher in Deutschland mehr Probleme haben als zuvor", wie Gerhard Glogowski, Innenminister von Niedersachsen und bekennender SPD-Rechtsaußen frohlockt ? Die Crux an der Diskussion um den "Lauschangriff" ist die emotionale Überhöhung, mit der sie geführt wird - bezeichnend daß "Schnarre", wie die ehemalige Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger von ihren (zahlreichen) politischen Gegnern abschätzig genannt wird, bei ihren öffentlichen Auftritten zum Thema der elektronischen Wohnraumüberwachung des öfteren sehr nah am Wasser gebaut hatte und ihre Stimme vor nur mühsam unterdrückter Emotion bebte. Das fängt mit dem Namen des ganzen an, der schon selbst ein ideologischer Kampfbegriff und ein Paradebeispiel für die Macht des richtig (oder eben falsch) gewählten Wortes ist. Hätte man gleichlaufend die Möglichkeit des Straferlasses für Tatbeteiligte, die den Behörden Informationen über ihre Komplizen lieferen, nicht als "Kronzeugenregelung" sondern als "Verräterbonus" in die öffentliche Debatte eingeführt - wer weiß, ob sie jemals Gesetz geworden wäre.

Was bringt das nun verabschiedete, bzw. noch in den Vermittlungsausschuß delegierte Gesetzeswerk bei nüchterner Betrachtung ? Den Strafverfolungsbehörden wird mitnichten ein Freibrief zur Bespitzelung unbescholtener Bürger ausgeteilt. Vielmehr ist die Zulässigkeit der akustischen Überwachungsmaßnahmen an hohe rechtsstaatliche Voraussetzungen geknüpft, die weit über das ohnehin bei jeder staatlichen Entscheidung zu berücksichtigende Verhältnismäßigkeitsprinzip hinausgehen. Die Genehmigung durch ein Richtergremium ist mehr als bei der Einschränkung der meisten anderen Grundrechte gefordert wird. Folgt man Geist und Buchstaben der neuen gesetzlichen Regelung, so würde sich die Zahl der "Lauschangriffe" aller Voraussicht nach in ein eng gezogenen Grenzen halten. Daß Abgeordnete im Gegensatz zu Journalisten nicht zum Zielobjekt eines solchen staatlichen Lauschens werden dürfen, ist schließlich auch keine große Ungerechtigkeit, wie etwa der "SPIEGEL" über mehrere Seiten lamentierte, sondern sachlich begründet. Immerhin sind Abgeordnete Teil des Parlamentes, also der wichtigsten, der gesetzgebenden Staatsgewalt, die vor Übergriffen durch die anderen geschützt werden muß. Die Presse hingegen ist weder demokratisch legitimiert, noch ist sie demokratisch strukturiert oder wird - über die jeden Dritten treffende Gestezgebung und -anwendung hinaus - von den drei Gewalten kontrolliert. Sie ist mithin keine Staatsgewalt, auch wenn das ihrem bisweilen an Überheblichkeit grenzenden Selbstverständnis widersprechen mag. Die Differenzierung in den (allerdings noch nicht beschlossenen) Lausch-Ausnahmen ist also sachlich begründet. Und wer glaubt, durch die jetzige Verfassungsänderung würde ein privater Lebensbereich betroffen, der bisher der staatlichen Einsicht verschlossen gewesen war, irrt gewaltig. Denn den "Großen Lauschangriff" gibt es schon lange - und zwar auf dem Boden der Verfassung. Diese erklärt nämlich die Wohnung mitnichten zum sakrosanten Refugium des Staatsbürgers - wie überhaupt jedes Grundrecht zumindest durch kollidierende Verfassungsgüter eingeschränkt werden kann. Der bereits angeführte Absatz 3 des alten Art. 13 GG erlaubte ausdrücklich gesetzliche Ermächtigungen zu Eingriffen in die eben doch nicht unverwundbare Unverletzlichkeit der Wohnung. Dies galt allerdings nur zu präventiven Zwecken, also um bestimmte Gefahren - und auch Straftaten - zu verhindern. Der einzige Unterschied, den die in diesem Jahr verabschiedete Verfassungsänderung mit sich bringt, besteht darin, daß solche Eingriffe nun auch im Zuge der Strafverfolgung erfolgen dürfen. Wer von einem Angriff auf den Rechtsstaat spricht, von einer Demontage der Verfassung gar, verdreht die Fakten.

Doch natürlich gibt es berechtigte Einwände gegen den "Großen Lauschangriff". Das beginnt bei dem mit den Änderungen beabsichtigen Ziel der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. Es gibt in der kriminalpolitischen Diskussion wohl kaum einn zweiten Begriff, der so konturenlos ist wie der der "OK", und der dennoch einen beispiellosen Siegeszug in das Vokabular der politischen Auseinandersetzung verzeichnen konnte. Je nach politischer Couleur und individueller Erfahrung steht es jedem frei, sich unter Organisierter Kriminalität alles von mafiosen Banden und finsteren Russenkillern über Schleuserorganisationen bis hin zu unterwanderten Polizeidienststellen und schmiergeldzahlenden Wirtschaftskriminellen vorzustellen. Bei gehössiger Betrachtungsweise läge da sogar die Frage nahe, ob der im Zuge der Flick-Spendenaffäre verurteilte Steuerstraftäter Otto Graf Lambsdorff vielleicht doch nicht aus liberalem Gewissen sondern als Lobbyist potentieller Lauschangriffsziele gegen die Verfassungsänderung votierte. In jedem Fall muß man sich die "OK" jedoch wohl als mächtigen kriminellen Faktor vorstellen, jedenfalls wird vor ihr seit Jahren als solcher von Bundesinnenminister Kanther und seiner Propagandamaschine gewarnt. Wenn dem aber so ist, dürfte es einem Phänomen mit derartig hoher "krimineller Energie" wohl nicht sonderlich schwerfallen, auch aus dem Rüstungswettlauf um die bessere Lausch-, respektive Schutz-Technologie als Sieger hervorzugehen. Ob angesichts dieser (auch von Strafverfolgern durchaus prognostizierten) Entwicklung aber die Gefahr der Bespitzelung unbescholtener Bürger in ihrem privaten Wohnbereich noch als angemessener Nebeneffekt hingenommen werden kann, scheint durchaus fraglich zu sein. Hinzu kommt, daß die Änderung in den Fällen, in denen die Begehung weiterer Straftaten durch die Abzuhörenden zu befürchten steht - was bei einer organisierten Kriminalität die Regel und nicht die Ausnahme sein dürfe - weitgehend überflüssig war, da ja der präventive Lauschangriff schon bisher zulässig gewesen ist - und es durchaus Stimmen in der Rechtswissenschaft gab, die dabei erlangte Erkenntnisse für in gewissen Grenzen auch im Strafprozeß verwertbar hielten. Weiterhin liegt die Befürchtung nahe, daß die einmal von der Leine gelassene Exekutive im Namen hehrer Ziele weit über das Ziel hinausschießen und dabei die Judikative blauäugig Schützenhilfe leisten würde. Die seit 1990 drastisch angestiegene Zahl der richterlich angeordneten Telefonüberwachungen mag hier als Flammenzeichen an der Wand dienen. Strafrichter, die solchen Anträgen nicht sofort nachkommen und sich gar erdreisten, mehr über die Hintergründe und mögliche Handlungsalternativen erfahren zu wollen, sind die Ausnahmen - und oftmals schon mit dem nächsten Geschäftsverteilungsplan des Gerichtes nicht mehr mit dieser Aufgabe betraut. Daß die Praxis sich kaum um die restriktiven gesetzlichen Regelungen kümmern werden dürfte, entspricht also leider der bisherigen Erfahrung mit dem Wissensdrang der Strafverfolger.

Doch ob diese Einwände reichen, um den "Großen Lauschangriff" mit rechtlichen Mitteln zurückschlagen zu können, scheint eher fraglich. Das Schlachtfeld ist ohnehin ein anderes - denn der "Lauschangriff" ist kein Übel, das dem armen Bürger von irgendwelchen Politikern angetan wird. Daß die ganz große öffentliche Erregung - also der Protest außerhalb der Leitartikel und Fernsehreportagen - ausblieb, daß, wie auch der "SPIEGEL" treffend bemerkte, kein Mensch daran zu denken scheint, gegen die Änderung des Art. 13 GG auf die Straße zu gehen, zeigt, daß die Politik hier nur einen Wunsch des Volkes ausführt, die Regelung einem Sicherheitsbedürfnis der Menschen Folge zu leisten scheint. Und hier haben die Medien sich über Jahre hinweg die Grube gegraben, in die sie jetzt fallen könnten. Denn wer in großen Titelgeschichten die Mär von der in Deutschland angeblich rapide zunehmenden Kriminalität verbreitet, wer scheinheilig die Opfer von Sexualverbrechen auflistet, um so die eigene Auflage nach oben zu treiben, wer aus jedem banalen Selbstmord eines drogensüchtigen Politikers durch abstruse Verschwörungstheorien ein großes Staatsverbrechen macht, braucht sich nicht wundern, wenn die so beschallte Bevölkerung an die Krankheit in ihrem Inneren glaubt und zurückschlagen, sich quasi gesundhorchen will. Mit der Realität hat das ganze nichts zu tun. Nach den offiziellen Angaben hat die Kriminalität in Deutschland seit Jahren nicht signifikant zugenommen - vielmehr steigt oder sinkt sie regelmäßig nur um wenige Prozentbruchteile im jährlichen Vergleich. Das gibt natürlich nicht genug Stoff für eine zündende Titelgeschichte und betroffene Schein-Analysen, so daß man die Zahlen so lange sichtet, bis man den Teilbereich gefunden hat, in dem tatsächlich erhebliche Schwankungen festzustellen sind. Und wenn etwa die Gewaltkriminalität um eine zweistellige Prozentzahl gestiegen ist, läuft dem Leser oder Zuschauer ein freudiger Gruselschauer den Rücken runter und der Boden für eine spannende (und verkaufsfördernde) Fortsetzungs-"Reportage" ist bereitet. Daß gleichzeitig z.B. die Zahl der Sexualstraftaten entsprechend zurückgegangen ist, interessiert dann nicht weiter und wird gnädig ausgeblendet. Medienerfindungen wie die vermeintliche Russenmafia, die in Wirklichkeit über ein paar Devisenrubeleien, Autoschiebereien und provinzielle Rotlichtmilieustraftaten in Berlin und einigen der neuen Bundesländer nie richtig hinausgekommen ist, haben gar als fester Bestandteil von Fernsehkrimis ihren Weg in die Populärkultur geschafft. Natürlich stellen Verbrecherorganisationen, insbesondere wenn sie staatliche Institutionen unterwandert haben, eine nicht zu unterschätzende Gefahr für jeden demokratischen Rechtsstaat dar. Doch daß eine solche für die Bundesrepublik besteht, muß erst noch bewiesen werden. Sonntagskampfreden gut frisierter ideologischer Hardliner sind da wenig hilfreich.

Aber die Methode hat System - was nicht heißen soll, daß sie auch gesteuert würde. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, die Menschen fürchteten die Freiheit, die ihnen die Schöpfer des Grundgesetzes ursprünglich garantieren wollten, und die Risiken, die zwangsläufig aus ihr erwachsen. Der Ruf nach immer mehr staatlichen Lösungen im sozialen und wirtschaftlichen Leben ist da nur die Spitze des Eisbergs in der aktuellen Diskussion. Daß diese Angst vor der grundsätzlichen Eigenverantwortung vor allem auch auf dem Gebiet der hier in Rede stehenden Grundrechtssicherung zu einer immer stärkeren Bereitschaft, Freiheit gegen Sicherheit einzutauschen, geführt hat, erschließt sich etwa aus einer zeitlich gerafften Betrachtung der Veränderungen, die der Grundrechtskatalog der Verfassung in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Das begann schon in der Frühzeit der Republik mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, bei der die Deutschen einen Teil ihrer persönlichen Freiheit zugunsten der Sicherheit der Landesverteidigung aufgaben. Es folgte die Notstandsgesetzgebung von 1968, mit der der Verfassung ein Mechanismus zur Aushebelung ihrer selbst implantiert wurde, und die Einschränkung des Art. 10 GG, der das Fernmeldegeheimnis schützt und heute weitgehende Abhörmaßnahmen durch staatliche Organe ermöglicht. Der letzte tiefe Einschnitt in den Freiheitenkatalog des Grundgesetzes ist schließlich noch nicht lange her - mit der Einführung des neuen Asylrechts über Art. 16a GG wurde das einstmals (zumindest in der Theorie) sehr großzügige Schutzrecht für politisch Verfolgte praktisch auf ein von der Menschenwürde gefordertes Minimum zurückgestutzt. Und jetzt wird diese unheilige Reihe mit dem "Großen Lauschangriff" fortgesetzt - daß weitere Beschränkungen der Kommunikationsfreiheiten mit dem zu erwartenden Ausbleiben von Fahndungserfolgen früher oder später erfolgen werden, scheint so sicher zu sein wie das (nicht abhörbare) Amen in der Kirche. Nicht umsonst propagiert Kanthers Innenministerium ja schon seit Jahren ein Verbot starker Kryptographieverfahren für die Internet-Kommunikation, ein Vorhaben, das im Moment sicher nur vorübergehend in der Schublade verschwunden ist. Sicher - alle aufgeführten Änderungen waren zu ihrer Zeit auch in der Bevölkerung heiß umstritten und führten zu teilweise leidenschaftlichen Auseinandersetzungen. Doch letzten Endes siegten immer diejenigen, die dem Bürger einen Zugewinn an Sicherheit versprachen. Die Zeitspannen zwischen den einzelnen Zäsuren im Grundrechtsgefüge waren dabei immer so bemessen, daß in der Regel bei jeder neuen Einschränkung die Kämpfe der vergangenen Tage längst vergessen waren und niemand mehr nachfragte, warum denn nun die einst versprochene zusätzliche Sicherheit so sicher doch nicht zu sein scheint. Es sind also mitnichten nur die Organisierte Kriminalität oder ein übermächtiger Staatsapparat, die den Bürger in seiner Freiheit beschränken. Indem er vergißt, verdrängt, nicht nachfragt, sich für dumm verkaufen läßt und seine Wahlentscheidung (falsch) trifft, ist er es vor allem auch selbst - und merkt das hoffentlich, bevor er sich unwiederbringlich in eine selbstverschuldete Unfreiheit begeben hat.

(c) by Andreas Neumann


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