"Jeremy Reynolds, 45 Jahre alt, unverheiratet, keine Verwandten, außerhalb
seiner Firma Reynolds, Incorporated scheinbar auch keinen persönlichen
Kontakt zu irgendwelchen anderen Leuten. Man könnte sagen, er ist isoliert.
Bringen Sie ihn um, und niemand wird ihn vermissen."
"Wieviel ?" fragte der Mann in dem dunklen Mantel, der bis auf den Boden
reichte.
"Zehntausend jetzt, und weitere Vierzigtausend, wenn er eine Kugel im
Kopf hat."
"Wo ist der Haken ?"
"Kein Haken. Er ist der Besitzer einer Firma, die ich haben will. Wenn er
tot ist, wird sein Besitz an den meistbietenden versteigert. Und das werde
ich sein."
"Hat er kein Testament ?"
"Keine Angst, hab ich überprüft. Aber es gibt auch niemanden, dem er etwas
hinterlassen könnte. Wie gesagt, er lebt vollkommen isoliert."
"Angst hab ich nicht. Es ist mir im Grunde sogar egal, ob er ein Testament
hat oder nicht. Aber ich will wissen, was läuft, damit ich kein Risiko
eingehe. Mein Beruf bringt viele Fettnäpfchen mit sich."
"Genauso wie meiner", erwiderte der andere Mann und warf seinem Gegenüber
eine schwarze Mappe mit einigen Akten zu.
"Da steht alles drin, was sie wissen müssen."
"Morgen, Sue-Allen", grüßte Jeremy die Indianerin, die ihn freundlich
anlächelte.
"Morgen, Jeremy. Pünktlich wie immer."
Jeremy ließ sich gemütlich in den Stuhl fallen, blickte kurz in den
Spiegel vor ihm und dann auf seine Uhr. Seine Haare lichteten sich
allmählich. Und es war Punkt eine Minute nach Acht. Sue-Allen kam zu ihm
und versetzte ihm einen leichten Klaps auf den Schädel. "Was ich immer
schon mal fragen wollte ..", begann sie, während sie den Stuhl vorsichtig
nach hinten kippte.
"Was denn ?" hakte Jeremy nach. Sanft legte sie seinen Kopf auf den Rand
des Waschbeckens, dann drehte sie den Wasserhahn auf. Das warme Wasser
sprudelte aus dem Brausekopf, ergoß sich über Jeremys Haare und floß in den
Abfluß, als wäre es niemals da gewesen.
"Seit ich hier bin, kommen sie jeden Tag, immer um die gleiche Uhrzeit,
hierher. Und Sie sind auch schon immer hergekommen, als ich noch nicht hier
war. Sie bezahlen viel Geld dafür, damit Sie schon reinkommen können, bevor
der Friseurladen überhaupt offiziell auf ist. Warum ?"
Jeremy blickte sie an, während sie mit zarten Fingern das Shampoo in seinem
Haar verteilte. Er sah sie einen Moment mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck
an, der Bitterkeit und Freundlichkeit zugleich ausdrückte.
"Weil Geld das ist, wovon ich mehr als genug habe."
"Ich fasse es nicht", flüsterte der Mann in dem dunklen Mantel. "Es stimmt
tatsächlich. Jeden verdammten Tag geht er zum Friseur. Ist der als Kind in
einen Topf mit Haarwuchsmittel gefallen?"
Er ließ das Fernglas auf die schwarze Aktenmappe auf dem Beifahrersitz
fallen und stellte den Motor an. Die Friseuse war damit fertig, ihm ein
paar Millimeter seiner Haare abzuschneiden, und laut der Aktenmappe dauerte
es anschließend nie länger als zwei Minuten, bis er den Laden wieder verließ.
Der Mann in dem dunklen Mantel drückte leicht auf das Gaspedal und begann
damit, den Wagen zu wenden.
"Hallo, Chris."
Chris grüßte seinen Arbeitgeber mit einem freundlichen Nicken und wandte sich
dann wieder den Monitoren zu. "Alles normal, Mr. Reynolds."
"Wenn Sie das sagen, Chris."
Der Sicherheitsbeamte sah einen Moment verwundert zu seinem Arbeitgeber auf.
Eigentlich sagte er an dieser Stelle nur noch etwas wie "okay" oder "gut". Als
der Besitzer von Reynolds, Incorporated in den Aufzug einstieg und sich die
Türen hinter ihm schlossen, zuckte Chris kurz mit den Schultern und wandte sich
wieder den Monitoren zu.
"Du bist spät dran, Junge", sagte der Mann im dunklen Mantel, als Jeremy endlich von seinem Stuhl aufstand und zum Fenster ging. Nach dem, was in der Akte stand, hätte er es eigentlich schon vor fünf Minuten aufmachen sollen. Wenn diese Scheibe nur nicht schußsicher wäre, dann könnte er jetzt schon zuhause sitzen und ein Bier trinken. Stattdessen mußte er seit einer Stunde auf dem Dach eines verdammten Hochhauses sitzen und mit einem Gewehr in der Hand darauf warten, daß dieser Kerl endlich das Fenster aufmachte. Und dann verspätete er sich damit auch noch.
Jeremy stand vor dem Fenster und blickte nach draußen. In der Hand hielt er eine kleine Zinnfigur von Napoleon, wie er auf einem Roß saß. Eigentlich hielt Jeremy nichts von Kriegen. Aber eigentlich hielt Jeremy auch nichts davon, der Besitzer eines großen Unternehmens zu sein. Eines Unternehmens, das sich darauf spezialisiert hatte, Metallstifte herzustellen. Diese Stifte wurden für viele Dinge benutzt - von manchen Küchenmaschinen bis hin zu Gewehren. Trotzdem sah Jeremy es nicht als den Traum seines Lebens an, ein Unternehmen zu besitzen, das Metallstifte herstellte.
Überrascht nahm der Mann im dunklen Mantel seinen Finger vom Abzug. Dieser
reiche Sack drehte sich einfach um und ging vom Fenster weg, ohne es zu
öffnen. Er wandte sich einem Regal in seinem Zimmer zu, das vollstand mit
Zinnfiguren, und stellte die Figur, die er vorhin dort weggenommen hatte,
wieder an ihren Platz.
Danach setzte er sich hin und ging an sein Telefon. Keine zehn Sekunden
später legte er auf und verließ den Raum. Davon stand nichts in den Akten.
Gelangweilt ließ der Mann im dunklen Mantel das Fernglas über die Straße
schweifen. Ein großer Transporter fuhr in den Hinterhof von Reynolds Firma
und verschwand hinter dem riesigen Gebäude. Das Fernglas kehrte zurück zu
Reynolds Büro, das immer noch leer war, und wanderte dann abermals über
einige andere Büros hin zum Dach.
Es war recht interessant, was sich in den anderen Büros abspielte. Eine
junge Sekretärin - oder was auch immer ihr Job war - hatte zwei
übergewichtige Mittvierziger in ihren jeweiligen Büros an sich rangelassen.
Beide hatten ihr einen Ring geschenkt. Der eine hatte ihr den Ring vor
dem Sex gegeben, der andere erst nachher. Als sie im Büro des zweiten
Kerls war, trug sie den Ring vom ersten allerdings nicht mehr.
Fast instinktiv wechselte der Blick des Mannes im dunklen Mantel kurz zu
seiner Waffe, als er merkte, daß sich auf dem Dach etwas tat.
"War es schwierig herzustellen ?"
"Tut mit leid, Sir, aber das weiß ich auch nicht. Ich liefere es nur."
"Ich geh aber mal davon aus", warf der andere Arbeiter ein. "Zumindest
der Entwurf muß eine Höllenarbeit gewesen sein."
"Ich hoffe nur, es ist sein Geld wert."
"Eins kann ich Ihnen versichern, Mr. Reynolds", setzte der erste Arbeiter
wieder an, während er sich an dem Schloß zu der riesigen Metallkiste, die
sie im Lastenaufzug auf das Dach gefahren hatten, zu schaffen machte. "Es
hat sich noch nie, ich betone: noch nie, jemals ein Kunde bei uns
beschwert. Sie können also sicher sein, daß es sein Geld wert ist."
Der Mann im dunklen Mantel war ziemlich unzufrieden. Das Ganze verzögerte sich mehr und mehr. Jetzt stand Reynolds mit zwei Arbeitern in blauen Kitteln auf dem Dach. Die beiden Arbeiter machten sich an einer etwa drei Meter hohen, ebenso langen, und vielleicht eineinhalb Meter breiten Metallkiste zu schaffen. Was zur Hölle hatte sich Reynolds da aufs Dach bringen lassen? Verärgert warf der Mann im dunklen Mantel einen Blick auf die schwarze Aktenmappe. Sie war praktisch wertlos für ihn gewesen.
Jeremy betrachtete das Pferd, das vor ihm stand. Es hatte die Größe und
Proportionen eines echten Pferdes, bestand aber fast vollständig aus Metall.
Als er diese Konstruktion in Auftrag gegen wollte, hatte der
Abteilungsleiter, mit dem er gesprochen hatte, ihn angeschaut wie einen
Verrückten. Er erklärte, daß es vollkommen unmöglich sei, so etwas zu bauen.
Jeremy hatte dann noch ein langes Gespräch mit dem Chef der Firma geführt,
die eigentlich Einzelanfertigungen für industrielle Maschinen verschiedenster
Art machte. Auch der Chef hatte ihn wie einen Verrückten behandelt. Als
Jeremy aber erklärte, daß er ihm sein gesamtes Vermögen, seine Firma und
alles überlassen würde, wenn er das Pferd bekäme, willigte der Mann ein.
Was störte es ihn, ob Jeremy geisteskrank war, solange er sein Geld bekam?
Es war alles vertraglich geregelt, und Jeremy würde nur noch für ein paar
Stunden der offizielle Besitzer seiner Firma sein.
Einige Regentropfen fielen auf sein Jackett.
Ein leises Fluchen konnte der Mann im dunklen Mantel nicht unterdrücken,
als er zu Jeremy sah. Es regnete jetzt seit fünf Minuten in Strömen, und
immer noch stand dieser Geisteskranke vor seiner ebenso geisteskranken
Konstruktion. Ein Pferd aus Metall! Was zur gottverdammten Hölle wollte er
damit?
Sofort griff der Mann im dunklen Mantel nach seinem Gewehr, als Jeremy
sich plötzlich auf das Pferd schwang. Durch das Zielfernrohr konnte er
ihn zwar ziemlich gut erkennen, aber bei dem Regen war er sich nicht sicher,
ob er nicht doch daneben schießen würde. Er wartete lieber noch
etwas ab.
Jeremy griff in die Tasche, die man, wie er es bestellt hatte, an das Pferd angebracht hatte. In dieser Tasche war ein Hut. Jeremy betrachtete den Hut, der ziemlich schnell vom Regen durchnäßt war. Er sah nicht ganz so aus wie der von Napoleon, aber er kam ihm zumindest recht ähnlich. Es sollte ihm genügen. Ganz langsam setzte er ihn auf.
Der Kerl war wirklich geisteskrank. Wie Napoleon saß er auf seinem
metallenen Pferd und starrte in den Regen, der auf ihn niederprasselte.
Wenn er noch lange wartete, würde der Mann im dunklen Mantel noch einen
Schnupfen bekommen. Er verlor die Geduld und griff wieder nach seinem
Gewehr.
Als er durch das Zielfernrohr blickte, fand er Reynolds nicht mehr. Er
blickte kurz über das Gewehr hinweg, und als er nicht glauben konnte, was
er sah, blickte er wieder durch das Zielfernrohr. Diesmal fand er Reynolds
sofort.
Dieses verfluchte Pferd konnte tatsächlich reiten! Was mochte dieses
unglaubliche Ding gekostet haben? Und wie verdammt geisteskrank mußte
man sein, um sich so etwas zu holen?
Es war unwichtig. Der Mann im dunklen Mantel versuchte, trotz des Regens
sein Ziel genau zu erfassen. Nur noch ein paar Sekunden, dann hatte das
Pferd keinen Reiter mehr.
Jeremy drückte den zweiten und letzten Knopf vor ihm. Das Pferd ging in einen schnellen Galopp über. Jeremy schloß die Augen, atmete tief ein und ließ sich durch den Regen tragen. Er hatte den Krieg gewonnen.
Der Schuß hätte eigentlich getroffen.
Mit offenem Mund starrte der Mann im dunklen Mantel auf Reynolds, der
zusammen mit seinem metallenen Pferd auf den Erdboden zuraste. Die Leute
in den Büros, die ihn sahen, blickten ihm äußerst verwundert nach.
Die Fünfzigtausend konnte der Mann im dunklen Mantel vergessen.
Vidar / Heiner de Wendt
E-Mail: hdw@a2.amclust.de