politik

Spucken für die Sonderkommission

Am 09. und 10. April 1998 spielten sich in öffentlichen Gebäuden rund um den niedersächsischen Ort Strücklingen seltsame Dinge ab. Erwachsene Männer ließen sich von Mitarbeitern der Polizei Speichelproben von vier Stellen des Mundinnenraumes nehmen. Insgesamt waren 18.000 Männer aus dem Kreis Cloppenburg gebeten worden, sich freiwillig an dieser Spucke-Sammlung zu beteiligen. Zweck der Übung war es, von jedem der Teilnehmenden einen sogenannten "genetischen Fingerabdruck" zu bekommen. Dieser wird aus einer Analyse der Desoxyribonukleinsäure (DNS), der Erbsubstanz des Menschen, gewonnen. Ergeben sich beim Vergleich zweier solcher "Fingerabdrücke" - durch die sogenannte "Restriktions-Fragment-Längen-Polymorphismus-Analyse" - keine Unterschiede, steht die Identität der Erbgutträger mit einer mathematisch sehr hohen Wahrscheinlichkeit fest. Und tatsächlich ging es darum, Vergleichsmaterial zu sammeln - Material in einem der schrecklichsten Mordfälle, die in letzter Zeit die deutsche Öffentlichkeit erschütterten. Die elfjährige Christina Nytsch wurde Opfer einer furchtbaren Sexualmordes. Der Täter hinterließ Blut-, Speichel- und Spermaspuren an der Leiche des Mädchens und lieferte so den Strafverfolgern von der Sonderkommission "Nelly", benannt nach dem Spitznamen der Ermordeten, das Ausgangsmaterial, das zur Erstellung eines "genetischen Fingerabdruckes" erforderlich war. Nachdem ein Vergleich mit den "DNA-Fingerabdrücken" von 100 Personen, unter ihnen zahlreiche einschlägig vorbestrafte Sexualverbrecher, zu keiner Übereinstimmung führte, beschlossen die Ermittler, einen Schritt weiterzugehen. Eine der größten Operationen in der Geschichte der Strafverfolgung in Deutschland nahm, beinahe vorbehaltslos unterstützt von der öffentlichen Meinung, ihren Lauf. Unabhängig von ihrem Ausgang steht jetzt schon fest, dass sie der Rechtsstaatlichkeit unwiederbringlichen Schaden zugefügt hat.

Dabei ist die Idee bestechend. Da man zu wissen glaubt, dass der Täter über fundierte Ortskenntnisse verfügt, liegt der Schluß nahe, dass es sich bei ihm um einen Ortsansässigen handelt. Und wenn man "genetische Fingerabdrücke" aller altersmäßig in Betracht kommenden Personen, die in einem gewissen Umkreis des Tatortes leben, nimmt, muß auch der des Mörders dabei sein. Aus diesem Grund wird der Schuldige aller Voraussicht nach auch alles tun, an der - offiziell absolut freiwilligen - Aktion nicht teilzunehmen. Diejenigen, die an den beiden Tagen keine Speichelprobe abgegeben haben, sollen dann anschließend von Poizeibeamten persönlich aufgesucht und um Kooperation gebeten werden. Eigentlich eine sinnvolle Sache, sollte man meinen. Doch in Wirklichkeit ist die ganze Aktion alles andere als unproblematisch. Das beginnt ganz banal mit der schieren Größe dieser außergewöhnlichen Ermittlungsmaßnahme. Neben der Erzeugung erheblicher Kosten wird sie die Polizei vor Ort und vor allem auch das rechtsmedizinische Institut in Hannover, welches die "genetischen Fingerabdrücke" erstellen wird, für lange Zeit fast vollständig in Anspruch nehmen und somit andere wichtige Ermittlungen blockieren. Auf derartige Bedenken hin angesprochen, gefragt, ob das zu erwartende Ergebnis den Aufwand wert sei, konterte der Sprecher der Sonderkommission jüngst gegenüber Fernsehjournalisten mit der Frage, welchen Wert ein Menschenleben habe. Doch das ist kein Argument, das ist zynische Polemik. Denn eins steht fest - Christina Nytsch ist tot. Die Beschaffung der Speichelproben dient ausdrücklich dem Zweck, den Mörder zu fassen, also der Strafverfolgung. Dass dieser Mann, der offensichtlich bereits schon einmal ein Mädchen entführt und sexuell mißbraucht, es dann aber glücklicherweise wieder freiließ, erneut zuschlagen könnte, dass es also darum gehen könnte, präventiv tätig zu werden, um das Leben anderer Kinder zu beschützen, hat die Polizei bisher nicht behauptet. Es bliebe auch fraglich, ob ein solcher unspezifischer Verdacht als Rechtfertigung für eine derart umfangreiche Datenerhebung dienen könnte. Aber dies kann ohnehin dahingestellt bleiben - wie erwähnt ist das einzige Ziel der Fahnung die Dingfestmachung des Mörders im Zuge der Strafverfolgung. Die in Frageform gegebene Antwort des Polizeisprechers ist jedoch vor allem aus einem anderen Grund zynisch - es ist nämlich offensichtlich die Polizei selbst, die den Wert eines Menschenlebens zu kennen glaubt. Denn der kriminaltechnologische Aufwand, der bei der Jagd nach Christina Nytschs Mörder betrieben wurde und wird, dürfte weitgehend beispiellos in der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte sein. Schwer vorzustellen, dass man Luftwaffenfluggeschwader, die Erstellung aufwendiger psychologischer Profile und eben auch solche Großaktionen wie die Speichelprobenentnahme bei jedem ungeklärten Mordfall einsetzen wird. Das spricht nicht gegen die Bemühungen der Polizei. Aber es entlarvt die Aussage des Sonderkommissions-Sprechers als substanz- und geschmacklos.

Aber muß nicht alles getan werden, auch wenn es "nur" darum geht, den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen ? Die Antwort fällt relativ leicht: nein. In einem Rechtsstaat kann der Zweck nicht alle Mittel heiligen. Aber gilt das auch, wenn, wie hier, die Bevölkerung fast geschlossen hinter dem Mittel steht ? Ebenfalls fällt die Antwort leicht: ja. Die Regeln eines rechtsstaatlichen Verfahrens liegt nicht im freien Belieben von Mehrheiten. Die Grundrechte stehen nicht zur Abstimmung über TED. Das berechtigte Entsetzen über die Tat und der mehr als nur verständliche Wunsch nach einem baldigen Fahndungserfolg kann nicht dazu führen, genau für einen solchen Fall aufgestellte Regeln einfach außer Kraft zu setzen. Lynchjustiz ist eine der größten Gefahren gerade auch für einen demokratischen Staat - und der Ruf nach Vergeltung ist der erste Schritt im Verfahren der öffentlichen Vorverurteilung. Doch ist es der Polizei deshalb verwehrt, auch einmal zu ungewöhnlichen Maßnahmen zu greifen ? Natürlich nicht. Das gewählte Vorgehen rührt jedoch an einen zentralen Grundsatz rechtsstaatlicher Strafverfolgung - der Vermutung, dass jeder so lange als unschuldig zu gelten hat, bis ihm das Gegenteil nachgewiesen werden kann. Denn das Kalkül der Sonderkommission führt ganz bewußt auf die Anwendung des Ausschlußprinzipes hin. Man will diejenigen, die nicht schon in der ersten Runde kooperieren, ein weiteres Mal um "freiwillige" Mitarbeit angehen - mit einem persönlichen Besuch durch den Polizeibeamten. Und wer sich auch dann noch sträubt, ist natürlich automatisch verdächtig. Die angebliche Freiwilligkeit wird zur Farce. Die Unschuldsvermutung wird in ihr Gegenteil verkehrt: wer nicht mitmacht, macht sich verdächtig. Anstatt ihrer Aufgabe nachzugehen, und mit den vorhandenen Beweisstücken - die ja immerhin neben dem "genetischen Fingerabdruck" auch noch ein Messer der Marke "Secret Agent" mit diversen auffälligen Merkmalen und die im Rahmen der ersten Tat gewonnenen Erkenntnisse umfassen - an der Ermittlung des Täters zu arbeiten, versuchen die Strafverfolger das Gegenteil und nehmen dabei die öffentliche Kriminalisierung derjenigen, die sich an diesem aus reinem Aktionismus geborenen Mummenschanz nicht beteiligen, in Kauf. Und damit nicht genug. Das unselige Vorgehen der Sonderkommission könnte schwerwiegende Spätfolgen zeitigen. Schon wurden in Fernsehinterviews mit den Bürgern des Heimatortes von Christina Nytsch Stimmen laut, die es am besten fänden, einfach von jedem eine DNA-Probe zu nehmen und in einer Datenbank zu speichern, so dass man bei einem Verbrechen nur ein wenig organisches Material des Täters benötigt, um ihn blitzschnell überführen zu können. Spätestens bei solchen Forderungen sollte den Kriminalbeamten aufgehen, dass sie die Tür zum Bürgerrechte mißachtenden Überwachungsstaat einen Spalt weiter aufgestoßen haben. Bleibt nur zu hoffen, dass diese Folge nicht beabsichtigt war. Und dass sich die Strafverfolger der Republik in Zukunft wieder mehr vom Gesetz denn vom tagespolitischen Druck der Medien und der Öffentlichkeit leiten lassen.

(c) 1998 by Andreas Neumann


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