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SPIEGEL special 3/98: Freizeit digital

Alle Jahre wieder kommt das "SPIEGEL special" über das Thema Computer pünktlich zum CeBIT-Monat März in die Buchhandlungen und Bahnhofskioske der Republik. Und da wir ja in einem kollektiven Freizeitpark leben, ist auch die Wahl des diesmaligen Schwerpunktthema nur konsequent. Auf den "digitalen Mensch" (siehe Rezension in "AmigaGadget"%29) folgt die "Freizeit digital". Damit wird die ohnehin in dem Hamburger Monatsspezial stets vorherrschende Betrachtung der gesellschaftlichen Auswirkungen der informationstechnologischen Revolution diesmal offiziell zum Programm erhoben. Für die inhaltliche Gliederung bedeutet das jedoch zunächst einmal nicht allzu viel. Zwar sind es diesmal fünf statt nur vier Rubriken, auf die die einzelnen Beiträge verteilt sind. Doch deren Titel ähneln im wesentlichen denen der Vorjahre. Nichts neues sind auch die "Trends", den einzelnen (mit Ausnahme der letzten) Rubriken zugeordnete Sammlungen von thematisch dazu gehörenden Kurzmitteilungen. Und ebenfalls aus vergangener Zeit bekannt ist schließlich die Ouvertüre in Form eines (wie immer eher mittelmäßigen) Tomi-Ungerer-Cartoons und einigen sogennanten "Spots", kurzen Schlaglichtern auf Obskures und Erwähnenswertes aus der Welt der Bits und Bytes (u.a. ein Interview mit dem Medienkünstler padeluun, eine kleine Polemik gegen Microsoft und eine kurze Kolumne von Dave Barry, einem der profiliertesten Humoristen in den Vereinigten Staaten). So richtig geht es mit der digitalen Freizeit dann aber erst im auf Seite 16 beginnenden Kapitel "Perspektiven" los. Dahinter verbergen sich drei größere und ein kleinerer Beitrag zu Fragen der Wahrnehmung virtueller Information. Im einzelnen handelt es sich um einen Aufsatz über künstlich geschaffene Figuren, virtuelle Ikonen wie den im Rechner konstruierten weiblichen japanischen Pop-Star Kyoko Date, ein sehr gutes Essay über die Sündenbockfunktion der Medien (Stichwort: angebliche Verrohung der Jugend durch zunehmende Gewaltdarstellung im Fernsehen) mit angefügter Kurz-Reportage über die "Blue Ribbon Campaign", die Netz-Bewegung gegen staatliche Zensur, sowie ein sehr lesenswertes (aber mit "Das Kind wird zum Scanner" ziemlich absurd betiteltes) Interview mit dem Hamburger Erziehungswissenschaftler Horst W. Opaschowski, in dem u.a. die Behauptung, das Internet würde die Gesellschaft tiefgreifend verändern, kritisch hinterfragt wird. Alles in allem ist der Auftakt vielversprechend, die Qualität der "Perspektiven" erfreulich hoch und die Brisanz des Inhaltes nicht zu unterschätzen.

"Moral läßt sich den Medien unter demokratischen Verhältnissen nicht verordnen, sie ist eine Funktion des Marktes, der freien Konsumentenentscheidungen. Für die aber, für unser eigenes Verhalten also, ist keine dunkle Macht verantwortlich - wie auch keine unmoralischen Medien unsere Kinder lehren, Gut und Böse zu verwechseln.
Das schlechte Beispiel, das wir zu fürchten haben, geben wir selbst."

-- Gundolf S. Freyermuth, "Medien ohne Moral?"

Weiter geht es mit der digitalen Durchdringung der "Gesellschaft". In neun Beiträgen soll wohl versucht werden, hier neues oder zumindest interessantes ans Tageslicht zu bringen. Dabei sind die Reportagen über einen Chatter, die Ausdehnung des Glückspielgeschäftes ins Internet, die Kontrolle der Datennetzkommunikation von Firmenangehörigen durch ihre Arbeitgeber, die Auswirkungen der elektronischen Kommunikationsform auf die Sprache, die (völlig überflüssige) Renaissance der (völlig überflüssigen) Bildschirmschoner und die (vermeintlichen) Schwierigkeiten, mit einer Suchmaschine an die gewünschten Informationen im Netz zu gelangen, sowie das Interview mit dem Journalisten und Buchautoren John Seabrook, der zwei Jahre lang seine zwischenmenschlichen Kontakte weitgehend auf online-Kommunikation begrenzt hatte, allesamt kurzweilig und durchaus informativ. Hinzu kommt ein Sonderteil "Links in die Alpen", in dem insgesamt vierzehn Prominente (u.a. Anarcho-Künstler Christoph Schlingensief, Telekom-Chef Ron Sommer, die Expo 2000-Vorsitzende Birgit Breuel und der schon im "Gadget" interviewte Smudo von den "Fantastischen Vier") ihre Lieblings-Seiten im WWW vorstellen. Interessanterweise gibt die ebenfalls vertretene PDS-Politikerin Angela Marquardt eine URL auf einem Marburger Universitätsrechner an. Aber nein, es ist dann doch (noch ?) nicht die Seite des "AmigaGadget". Den Höhepunkt der "Gesellschaft"-Rubrik stellt aber wohl ein Beitrag über die Manipulation der Wirklichkeit, die Verbreitung erfundener Nachrichten und die Hochkunjunktur, die Verschwörungstheorien aller Art im Internet verzeichnen, dar. Norbert F. Pötzl, festes Mitglied der SPIEGEL-Redaktion, gibt in diesem Artikel eine realsatirische Bestandsaufnahme der vernetzten Paranoiker und der Relativität des Gutes "Wahrheit" in den Zeiten der von jedermann (und -frau) problemlos und unbemerkt manipulierbaren Bits und Bytes, die gleichermaßen lesens- und nachdenkenswert ist. Witzigerweise erliegt Pötzl dabei selbst der Desinformation - und liefert einmal mehr einen Beweis dafür, daß man beim "SPIEGEL" dem Computer und dem Internet nach wie vor doch eher als Außenstehender, denn als fachkundiger Insider gegenübersteht. "Kürzlich", so Pötzl, sei "eine Story, die es am Absurdität leicht mit den Ergüssen eines Sherman Skolnick aufnehmen könnte", ins Internet eingespeist worden. Ihr Inhalt: die Stadt Bielefeld existiere nicht, sondern sei nur eine Erfindung von IHNEN. Diese Eulenspiegelei gibt es zwar wirklich. Sie ist jedoch schon über zwei Jahre alt (und jedem, der mal einen Blick in "de.talk.bizarre" geworfen hat wohl gut bekannt) - was im schnellebigen Internet-Zeitalter auch bei freundlichster Auslegung kaum als "kürzlich" durchgehen dürfte.

"Als ich wissen wollte, ob das Kartellrecht nicht geschaffen wurde, weil es politisch und wirtschaftloch notwendig war, verwandelte sich der nette Junge in einen sarkastischen, völlig humorlosen Grizzlybären. `Ich glaube, Sie sind durcheinander', sagte er und bebte vor Wut. Zurück im Hotel, fand ich eine E-Mail von Gates. Er antwortete mit der ruhigen, vernünftigen Stimme von <billg> auf eine noch offene Frage. Online hatte er den Grizzly wieder unter Kontrolle."

-- John Seabrook im "Special-Gesrpäch"

Mit "Szene" folgt ein erster wirklich freizeitspezifischer Schwerpunkt des Heftes. Erneut wurden neun Beiträge zusammengetragen, in denen es um so unterschiedliche Dinge wie Themenparks (in einer sehr ausführlich bebilderten Reportage), Personal Organizer, Verbotszonen für Handys (inklusive einer Umfrage, derzufolge 89 Prozent der Deutschen keine Handys auf Friedhöfen und in Kirchen sehen, aber sogar 91 Prozent sie zur Gänze aus Theatern und Kinos verbannen wollen), die Wiedererweckung der guten alten "Sportschau" durch den Einsatz multimedialer Gestaltungskraft, virtuelle Haustiere und das Engagement von Microsoft im Computer-Spiele-Sektor (in Form eines Interviews mit Christiane Ritter, der Marketingsleiterin für Consumer Products bei Microsoft München) geht. Eine kleine Besonderheit stellt der Beitrag "Süchtig nach Mario" dar. Christian Nürnberger gibt hier ein (wohl fiktives, jedenfalls aber sehr amüsantes) Streitgespräch mit seiner Ehefrau, der "Mona Lisa"-Moderatorin Petra Gerster, über den Sinn und Unsinn von Computerspielen wieder, das Pflichtlektüre für alle Eltern werden sollte, die sich um den schlechten Einfluß von Mario, dem Nintendo-Klempner, und seinen Kollegen auf ihre Sprößlinge Sorgen machen. Weniger technikbegeistert zeigt sich Wolfgang Becker, 75 Jahre alt, der in einem ziemlich nostalgischen und von Vorurteilen geprägten Essay behauptet, "glücklich ohne Computer" zu sein. Und schließlich werden Amiga-Fans, was angesichts des Rubriken-Titels ("Szene") auch irgendwie sprachlich folgerichtig ist, hier ebenfalls hellhörig werden. Unter der Überschrift "Kaste aus dem Hinterhof" wird auf drei Seiten die auch auf der "Freundin" seinerzeit sehr aktive Softwareschmiede "Blue Byte" ("Die Siedler", "Battle Island") vorgestellt. Allerdings ist der Amiga selbst hier nicht mehr als eine Fußnote, demütigenderweise in einem Atemzug genannt mit einem weitaus älteren und auch technisch um Lichtjahre zurückgebliebenem Relikt der Homecomputer-Geschichte:

"Er hatte, wie viele andere Achtziger-Jahre-Kids, einen `C64' und eine `Amiga'-Kiste im Kinderzimmer."

-- Peter Wensierski, "Kaste aus dem Hinterhof"

In Rubrik Nummero 4 wird sich nun der "Zukunft" zugewandt. Das beginnt - unter der ironischen Überschrift "Xanadu 2.0" - mit einer Vorstellung des neu errichteten High-Tech-Anwesens des "Microsoft"-Chefes Bill Gates, das u.a. komplett im Querschnitt auf einer aufklappbaren Doppelseite abgebildet ist. Weitere Ausblicke in die Zukunft versprechen Reportagen zu Auswirkungen der Digitalisierung auf die Ästhetik der Fotokunst (dem Sujet gemäß mit zahlreichen interessanten Werkbeispielen versehen), den nach wie vor bestehenden technischen Schwächen digitaler Fotokameras und modernen Systemen der Autodiebstahlsicherung, ein relativ nichtssagender (weil sehr verallgemeinernder und technische Details aussparender) Bericht über die Erschließung von Stromkabeln für die Datenkommunikation und ein Interview mit dem designierten Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff. Warum aber der Artikel "Mit der Pussy zum Erfolg" der "Zukunft"s-Rubrik zugeschlagen wurde, erschließt sich auch nach intensiver Lektüre nicht, beschreibt er doch expressis verbis die Gegenwart des Datennetzes, respektive das, was der Verfasser als solche ausgibt. Bei den "Zukunft"-"Trends" taucht übrigens die von der "Gütersloh '97"-Nachlese (s. "AmigaGadget"%30) bekannte "JenniCam" (umgezogen nach http://www.jennicam.org) auf - dem Trend der Zeit folgend ist auch diese freiwillige Aufgabe der Unverletzbarkeit der Wohnung nunmehr nur noch gegen Entgelt in vollem Umfang nutzbar. Außerdem werden auf der "Trends"-Seite fünf "neue" Emoticons vorgestellt.

" :(-(&) Mann, der gerade entdeckt, daß er einen Bandwurm hat."

An dieser Stelle folgt nun eine Heft-Beilage ("special Service") in Form einer sechsunddreißigseitigen, kleinformatigen Broschüre mit dem Titel "30 Berufe mit Zukunft". Erneut darf der praktische Nutzen dieser Ansammlung von Banalitäten ("Die Bedeutung der elektronischen Medien wächst so rasant, daß es längst keine Prestigeangelegenheit mehr ist, mit einer Homepage im Internet vertreten zu sein.", "Chip-Entwickler gestalten Zukunft.") bezweifelt werden. Interessant sind lediglich die Angaben zu den Einkommen, die den einzelnen Berufsprofilen zugeordnet sind. Wieder handfester wird die "Freizeit digital" mit der letzten Rubrik, in der sich das Heft den "Menschen" zuwendet. Geschickt werden dabei Individuen protraitiert und so gleichzeitig eine gesellschaftliche Entwicklung aufgezeigt, die sich hinter den einzelnen Personen verbirgt. So findet sich hier etwa ein Beitrag über den Tüftler Grohmann, der selbst unter HighEnd-Hi-Fi-Fanatikern, die den Klang ihrer Anlagen durch die Wahl bestimmter Kabel und den Einsatz ausgeklügelter Lautsprechersysteme zu verbessern glauben, noch als Extremist gelten dürfte. Oder ein Portrait von Bernd Krütt, einem "Komponisten", der keine Noten lesen kann und sich seine Techno-Songs mit Computerprogrammen - wie einem von der Firma des im selben Text vorgestellten "Klang-Konstrukteurs" Helmut Schmitz geschaffenen - zusammenbastelt. Allerdings wird auch abstrakt über die Auswirkungen und Rahmenbedingungen digitaler Freizeitvergnügungen geschrieben - etwa über die fehlende Berücksichtigung weiblicher Interessen in Computerspielen. Hier verschwimmen dann die Grenzen zu anderen Rubriken wie "Gesellschaft" oder "Szene". Halbwegs amüsant ist weiterhin noch ein fiktives Tagebuch, in dem eine Mutter resigniert ihre technische Unterlegenheit gegenüber ihrem elfjährigen Sohn dokumentiert, während die Kolumne "Bitte lesen!" eher verkrampft als humoristisch wirkt. Abgerundet wird diese letzte Rubrik des "Freizeit digital"-Specials von einigen vielversprechenden Buchtips (sowohl Sachbücher als auch - vor allem - Belletristik) zum Thema.

"Vor acht Tagen hat unser Telefon den Geist aufgegeben. Heute endlich steht Herr Prümmel von der Deutschen Telekom vor unserer Haustür. Er will uns wirklich helfen, aber er findet den Schaden nicht. Er geht sogar runter in den Keller und stellt fest, daß dort rot-schwarze Telefondrähte in der Wand verschwinden und als gelb-grüne bei uns in der Wohnung ankommen. Dann fragt er mich, ob ich ihm zeigen könne, wo die Telefonleitung entlanggeht. Sehr witzig."

-- Heide-Ulrike Wendt, "Überfall der Aliens"

Bei der Autorenschaft begnügt man sich offensichtlich zusehends mit einer etwas erweiterten "SPIEGEL"-Mannschaft - was allerdings auch daran liegen kann, daß diese gerade im Bereich der "neuen Medien" im Laufe der letzten Jahre ja um die SPIEGEL-online-Redaktion ergänzt wurde. Neben den Hamburger Angestellten kamen diesmal u.a. der für das im Heise-Verlag ("c't") erscheinende Online-Magazin "Telepolis" arbeitende Florian Rötzer, Erwin Koch, zweifacher Träger des Egon-Erwin-Kisch-Preises, und Christian von Ditfurth, Herausgeber einer beim Campus-Verlag erscheinenden Internet-Buchreihe (und schon von daher eine doch vermutlich etwas anachronistische Gestalt) zu Worte, respektive an die Tastatur. Geblieben ist weiterhin der lobenswerte Trend zu einem weniger verspielten, weniger unruhigen, die Lesbarkeit erhöhenden Layout. Geblieben ist auch der Umfang von (nicht ganz) 150 Seiten. Geändert hat sich hingegen der Preis. Nachdem schon im Vorjahr eine Preiserhöhung von 50 Pfennig negativ aufgefallen war, hat sich das Tempo der Inflation diesmal sogar noch erhöht. Stolze 9.50 DM kostet das "SPIEGEL special" inzwischen. Und wie immer ist es durchaus fraglich, ob der Preis gerechtfertigt ist. Zwar enthält "Freizeit digital" erfreulicherweise keine bereits aus der wöchentlichen "SPIEGEL"-Ausgabe bekannte Artikel (was ja früher durchaus anders war). Dafür bleibt der Informationsgehalt für den mit der Materie befaßten Leser eher gering. Und derjenige, der mit Computern nicht oder kaum vertraut ist, bekommt ein nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprechendes Zerrbild dargeboten. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß viele Beiträge, besonders in den ersten beiden Rubriken, durchaus interessant - oder zumindest witzig - sind. Bemerkenswert ist allemal die weitgehende Fixierung auf das "Netz". Zumindest in der Wahrnehmung der Medienöffentlichkeit entwickelt sich die Computerwelt wohl unaufhaltsam zur Netzwelt weiter. Und noch eine Feststellung am Rande soll nicht unerwähnt bleiben. In seinem Beitrag "Papier und Chips", in dem er die "Personal Organizer" als Fortsetzung des Filofax mit elektronischen Mittel darstellt, beschreibt Horst-Dieter Ebert u.a. das auf Papierbasis bestehende Problem, in ein bestehendes alphabetisch sortiertes Telefonverzeichnis einen neuen Namen einzufügen, "wenn zwischen Naumann und Niemann mühsam noch ein Neumann gequetscht werden muß". Die Wahl guter Beispiele zeichnet einen guten Journalisten aus...

(c) 1998 Andreas Neumann

"Der Präsident der USA fährt vor, William H. Gates III öffnet die Pforten, und nun beugt sich auch der mächtigste Mann der Welt der digitalen Vernetzung. Er erhält den schwarzen KNopf, Bill Gates' Computer übernimmt die Macht."

-- Frank Siering, "Xanadu 2.0"


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