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Ein Mitternachts-Snack

Pfeifend kam Jerry aus dem Kino. Er war schon ein echter Kotzbrocken (und stolz darauf). Er war die Sorte von Mensch, die es lustig finden, einer Katze einen brennenden Lappen an den Schwanz zu binden, und dann Wetten darauf anzunehmen, wie lange sie durchhalten würde.

Der Horrorfilm war wirklich nicht schlecht gewesen, dachte Jerry. Das Monster war wirklich grauenhaft mit seinen Tentakeln und den seltsamen Glubschaugen, die es wie ein Chamäleon in verschiedene Richtungen gedreht hatte, während es sich Teile irgendwelcher Teenager in sein tintenfischartiges Maul gestopft hatte. Am Besten hatte ihm aber der Besitzer dieses Dinges gefallen, der dafür gesorgt hatte, dass sein Liebling immer genug zu Fressen bekam und es fast wie einen Hund gehalten hatte. Jerry wußte es zwar nicht und hätte es im übrigen auch nicht geglaubt, aber der Grund für seine Sympathie war, dass dieser Typ ein genauso pickliges Arschloch war wie er.
Er grinste bei dem Gedanken an die Mädchen in der vorderen Reihe. Einige Male (bei ein paar WIRKLICH blutigen Szenen) war es ihm gelungen, die Weiber durch gezielte Popcornwürfe und Stupser fast in Ohnmacht fallen zu lassen. Er verzichtete darauf, Stöhnen oder Schreie von sich zu geben; sowas taten nur Anfänger. Wenn man damit anfing dauerte es gar nicht lange, bis der Aufseher kam und einen vor die Tür setzte. "Aber nicht mit mir", dachte Jerry mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.

Äußerst zufrieden mit sich schlenderte er am nun fast völlig leeren Parkplatz des Kinos vorbei. Er kam immer als Letzter aus dem Kino, nicht um sich den Nachspann anzusehen, sondern um noch ein paar gut durchgekaute Kaugummis an strategisch günstigen Plätzen zu plazieren.
Er kickte eine vor ihm liegende leere Bierdose über den Bürgersteig und erschrak aufgrund des in der nächtlichen Stille unglaublich lauten Schepperns. Jerry blieb stehen und sah unbehaglich über die Schulter. Kein Laut war zu hören, außer seinem Atmen. Er drehte sich um und beschleunigte, als er hinter sich ein Keuchen und Schritte vernahm. Jerry fuhr herum, konnte aber niemanden sehen.
Zitternd wandte sich Jerry wieder um und spurtete nun fast heimwärts. Zuerst hörte er nichts, doch plötzlich waren die Schritte wieder da, kamen näher und näher. Schließlich spürte er einen kalten Atem in seinem Nacken und fuhr herum, aber es war wieder niemand zu sehen. Ein paar Meter hinter ihm ging eine kleine, von hohen Häuserwänden gesäumte Gasse ab, auf die er langsam zuging. "Ist da jemand?", rief er leise und hörte das Zittern in seiner Stimme, als sie von den Häuserwänden zurückschallte. Er schluckte. Da war etwas, er hörte es genau. Wieder dieses leise Atmen, das fast sein eigenes hätte sein können, und es doch nicht war.
Jetzt reichte es. Jerry holte ein Springmesser hervor und rief "Ich komm gleich rein du Arsch! Ich werd' dich aufschlitzen!"
Ein leises, hohes Kichern ertönte aus der Gasse, keine zwei Meter vor ihm und das gab Jerry den Rest. Er ließ das Messer fallen, und gab Fersengeld. "Sieh dich nicht um!", sagte eine äußerst vernünftig klingende Stimme in ihm. Jerry hatte auch nicht vor, sich umzusehen, tat es aber doch, als hinter ihm dieses Kichern ertönte, das langsam in ein Lachen überging. Er blickte nach hinten und sah eine dünne Gestalt, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Das Gesicht drückte große Freude aus und Jerry wollte schon brüllen, was denn so verdammt komisch sei, als ein Laternenpfahl ihn in vollem Lauf stoppte. Als er wieder zu sich kam lag er auf dem Gehweg vor dem Laternenpfahl. Sein Kopf dröhnte und als sich Jerry die Stirn rieb klebte Blut an seinen Fingerspitzen. Zuerst wußte er nicht, wo er war, doch dann fiel ihm alles wieder ein und er riss seinen Kopf so schnell herum, dass seine Halswirbel knackten. Es war niemand da. Keine Menschenseele.
"Du Arschloch!", dachte Jerry. "Zuerst Halluzinationen, dann auch noch gegen einen Laternenpfahl knallen!"
"Hallo Jerry!", ertönte eine fröhliche, fast überschwengliche Stimme etwas links von ihm.
Jerry riss den Kopf herum und sah wieder in das ihm so unheimlich bekannt vorkommende Gesicht eines Teenagers, das nun nur noch etwa 20 Zentimeter von seinem entfernt war.
Jerry konnte den Duft irgendeines "Peppermint"-Kaugummis riechen. "Hat dir der Film gefallen, Jerry?"
"Wa-Wa-Www.."
"Ob dir der Film gefallen hat???", herrschte ihn der Teenager an. "J-J-Ja. W-w-warst d-du auch drin?"
"Gewissermaßen", meinte der Teenager und kicherte leise. "Weisst du, du bist mein größter Fan, und da dachte ich mir, ich statte dem guten alten Jerry mal einen Besuch ab!"
"F-F-Fan???", fragte Jerry. Er verstand im Moment nur Bahnhof.
"Oh ja, und ich hab' dir auch was mitgebracht. Schau hin". Der Teenager deutete hinter sich und Jerry blickte ihm über Schulter. Ihm stockte der Atem. Zwei Meter hinter dem Teenager hockte ein großer dunkler Fleischklumpen, den Jerry nur allzu gut kannte, und der nun in Bewegung geriet. Dicke, fleischige Tentakel kamen daraus hervor und stemmten sich am Boden ab. Zwei große, bösartige Augen öffneten sich und sahen Jerry an, während sich das Wesen mit Hilfe seiner saugnapfbewehrten Tentakeln im Zeitlupentempo auf ihn zubewegte. Die Saugnäpfe verursachten dabei übelkeiterregende, fleischige "Plopp"-Geräusche. Einer der Tentakel, der an seinem Ende nicht einmal fingerdick war, berührte Jerrys' Bein. Er kreischte schrill.
Bibbernd und sabbernd vor Angst drehte sich Jerry und kroch auf allen Vieren davon. Er kam auf die Beine, stolperte, fiel aber nicht hin sondern stakste mit hölzernen Beinen davon. Hinter sich hörte er das langsam leiser werdende "Plopp" der Saugnäpfe.

Er rannte beinahe die ganzen fünf Kilometer bis zu der Wohnung seiner Eltern. An der letzten Straßenecke blieb er wie ein Asthmakranker keuchend und völlig außer Atem stehen. Als er schließlich wieder etwas erholt war eilte er zur Eingangstür, fummelte seinen Schlüssel aus der Hosentasche und versuchte, ihn ins Schlüsselloch zu stecken. Seine Hand zitterte und nach einer schier endlosen Zeit gelang es ihm endlich, unter Zuhilfenahme der linken Hand, den Schlüssel einzuführen.
Mit einem Stoßseufzer ließ er die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Die Kräfte verließen ihn nun endgültig und er rutschte wie ein nasser Sack auf den Boden. Er heulte und lachte in einer seltsamen Mischung aus Furcht und Erleichterung. Er hatte es geschafft. Er hatte es diesem Scheißkerl und seinem Mistvieh gezeigt, ganz eindeutig. Er würde ganz sicher nicht als Mitternachtshäppchen für einen lebendig gewordenen Alptraum enden.
Jerry zog sich mühsam am Türgriff hoch, wodurch sich die Tür öffnete. Entsetzt warf er sich dagegen und keuchte. Schließlich schleppte er sich hoch in den oberen Stock, am Schlafzimmer seiner Eltern vorbei. Durch die halb geöffnete Tür sah er, dass die Betten zerwühlt aber leer waren, und hakte das unter "später Abendspaziergang" ab.
In seinem Zimmer angekommen liess er sich erschöpft auf sein Bett fallen und atmete tief durch. Er hört leise Saug- und Schmatzgeräusche aus dem Nebenzimmer, konnte sie aber nicht einordnen. Seine Eltern hätten ihm deren Bedeutung erklären können, wären sie nicht gerade anderweitig beschäftigt gewesen.

"Hallo Jerry!" ertönte eine fröhliche, fast überschwengliche Stimme hinter ihm.

(c) 1998 Stephan Hübner

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