Alle Jahre wieder: sitzen zwei Pärchen und ein blonder Halbintellektueller in einem Vorführraum. Das kann ja nur der neue Woody Allen sein!
Woody Allen mag man oder man mag ihn nicht; dazwischen gibt es nichts. Wer ihn mag, wird sich wiederum bestätigt fühlen, und wer nicht sowieso. Aber nach "Everyone says: I love you" liegen die Nerven blank und die Erwartungslatte ziemlich hoch:
Mit Deconstructing Harry läßt Woody Vergeltung walten. Das Allen-Opus Nummero 26 ist besser als alles, was er seit langer Zeit hervorgebracht hat. Im Mittelpunkt steht wieder mal ein kleiner, jüdischer, schwarzbebrillter Intellektueller mit sexuellen Obsessionen der Extraklasse. Längst bekannt, aber immer wieder willkommen: die Personalunion mit dem sexuell-sozial-intellektuellen Wahn. Der holt Harry in Form einer Schreibblockade ein, denn nachdem der Erfolgsschriftsteller seine sämtlichen Affären Eins zu Eins in einen Hit verwandelt hat (auf dem Buchmarkt und sonst nirgends), wird er aufs heftigste als unsensibler Egoist befeindet; Parallelen zu dem Privatleben des geistigen Vaters? Allen dementiert.- Nach drei Ehen, einem Sohn und sechs Analytikern dämmert Harry also definitiv, dass der Wahnsinn ihn eingeholt hat und er sich schleunigst seinen diversen Macken stellen muß, sonst stellen sie ihn. Allen löst dies Dilemma genial, indem er einfach die beiden Welten Harry Blocks ineinande schiebt. So weit sind die Welten Eins und Drei beileibe nicht getrennt, und fortan wird Harry von seinen eigenen Kreaturen heimgesucht. Das klingt ziemlich kopflastig und ist es auch. Man kann Allen gerne vorwerfen, dass er sein Nichts an Inhalt und das Maximum an exhibitionistischem Selbstmitleid geschickt hinter Gags und diversen Stars verheimtümelt - dürfte sogar stimmen. Aber solange er so rasend gute Filme macht, soll`s mir egal sein.
Bereits die Anfangssequenz ist eine Summe aus diversen vorherigen Werken. Vielleicht hat die Synchronisation mal `nen guten Tag gehabt, so eindeutig wie hier ging`s bei Allen jedenfalls noch nie zu. Den etwas subtileren Gemütern ist dies Werk zweifelsfrei nicht zu empfehlen; Harrys libidoöse Verschlingungen werden mit Witz der Marke herzlos, arrogant, bitter und brillant dargeboten. Der erste Handlungsstrang stellt klar, dass hier sämtliche Wohlanständigkeit über Bord geworfen wird und auch das amüsierte Kichern früherer Filme über Woodys Schweinereien will sich nicht mehr einstellen. Nunmehr wirft sich einer völlig enthemmt seinen Obsessionen in die Arme, die da heißen: Sex, Tod und Religion; genau in dieser Reihenfolge, wild durcheinander und nie zu trennen. Mit diesem exzessiv ausgespielten Themenkomplex traktiert Allen in bester Unsitte die Themen, die ihn vor 20 Jahren zum Star der Stadtneurotiker machten: lüsterne Literaten, frustrierte Frauen, elementare Existenzkrisen, Religio und Sex in allen geistesgeschichtlichen Variationen. Nach wie vor gelingt das Portrait dieser Figur genial, gut und vor allem witzig, egal ob sie nun Miles Monroe, Isaak Davis, Alvy Singer oder Harry Block heißt. Allein, viel neues gibt es dabei nicht zu melden.
Dafür ist die Inszenierung um so experimentierfreudiger. Carlo DiPalma, seit 12 Jahren Allens Kameramann of choice, schießt wilde Bilder der Protagonisten in wagemutigen Stellungen, die Schuß-Gegenschuß-Schnitte hat Allen fremd und gut aufgegeben. Der rasante Schnitt bereitet Kopfschmerzen, immer wieder wechseln die Anschlüsse schnell, werden rabiat der Szene Fetzen geschnitten und springt der Film zwischen Orten, Zeiten und Welten. Doch auch inhaltlich ist Allen weitergekommen. Nichts macht sich breit von wegen Altersweisheit, nach 62 Jahren kann er sein bestens eingeschliffenes Neurosenprogramm erst recht abspielen mit der Gewißheit, daran weder früher noch zukünftig etwas bessern zu können. Insofern ist Harry sehr ehrlich. Diesmal darf der Woody-Charakter sich eingestehen, dass er nie erwachsen geworden ist. Und: vielleicht zum ersten Mal stellt Allen mit Cookie eine Figur neben sein alter ego, der er trockene und gute Sprüche überlassen kann. Während alle anderen Harry domestizieren wollen, weiß Cookie, wie ungerecht und hart das Dasein ist und dass sein Wimmern auch nicht hilft. So jemanden hätte Harry vor 50 Jahren gebraucht. Schade nur, dass sie dann plötzlich in der Versenkung verschwindet. Aber Harry wird nun mal dekonstruiert, und das endet damit, dass er sich seiner Phantasiewelt ausliefert und darin seine Blockade vergessen kann. Dieser Schluß hält an Witzdichte nicht den Standard der vorhergehenden anderthalb Stunden. Aber Allen ist wenigstens konsequent - und ehrlich. Der Analyse-Fan attestiert der Analyse eine Niederlage auf ganzer Linie.
Trotzdem wird man mehr Gefallen an seinen schrägen Späßen finden. Hier findet der Kenner ALLES wieder, was gut und besser war und bleibt. Der Film ist ein abnormes Zitatensammelsurium. Neben Witzen über Ehe, Religion, Expansion, Judentum, Frauen, Schauspielern, Medien, Hitler und Analyse bietet Allen seine besten Seiten: wirre Inszenierungen, stotternde Dialoge, Zitate aus Bergman-Filmen und früheren Filmen seiner Selbst, "überragenden Intellekt und hemmungslosen Sex" (Na, na). Alleine die Anspielungen auf seine Kurzgeschichten könnten wahrscheinlich ein ganzes Buch füllen. Dem Allen-Freund wird Deconstructing Harry zur Fundgrube und zum opus summum, zumal diesmal auch etwas mehr intellektueller Überbau betrieben wird, den man aber ruhig mißachten kann. Überhaupt macht die Komplexität des Durcheinanders ein mehrmaligen Konsum zum Muß. Die Tradition als "Illusion der Permanenz" hat Woody köstlich gestaltet.
Bei allem Unfug hat der Film auch die düsteren Seiten, die Allens Filme mal mehr, mal wesentlich weniger durchziehen. Die grobe Leichtfertigkeit triebhafter Sittenlosigkeit des Frühwerks ist dahin. Wenn man jetzt lacht, dann ist es oft ein ziemlich bitteres Lachen. Man möchte gerne glauben, dass Allen sich selbst in Harry dekonstruiert. Nicht zuletzt ist Deconstructing Harry auch Negation der Therapie. Den Abstieg in die Hölle dagegen, mit diversen Barbusigen und Billy Christal als Leibhaftigem unsäglich kitschig und postneorealistisch hingeworfen, hätte Lubitsch vielleicht cooler hingekriegt. Aber Harry ist eben von schmalspuriger Phantasie, es sei denn, es geht um Sublimation und/oder Sex. Irrsinig ist es, wie Allen seine Gedankenwelt zugleich auf ganz oberstem und unterstem Niveau inszeniert. Und allein seine Anwandlung, der halben Riege seiner Stars inklusive Demi Moore ein hebräisches Profil zu suggerieren, ist genial. Dagegen ist seine Unverfrorenheit dem Judentum gegenüber recht dreist: unbekümmert prusten wird man bei Allens Bar Mitzwa im Star Wars-fascho-look trotzdem (müssen)...
Harry wird attestiert, er erwarte von seinen Mitmenschen die Anpassung an seine Verschrobenheit. Gegen Ende wird er unscharf, "out of focus", mit Hilfe von Tricks aus dem Hause ILM. Wenn er es mit Cookies gelangweilter Hilfe schafft, wieder ins rechte Bild zu kommen, dann war das nur zeitweilig. Alsbald verschwindet Harry endgültig im Reich seiner Figuren. Der Film ist deshalb so gut, weil er zeigt, dass jeder Filme macht. Pausenlos inszenieren wir uns: der Mensch erfindet sich selbst. Und dabei sind Realitäten mitnichten zu trennen. Harry wird am Schluß bemerken, dass seine Phantasien realer für ihn sind als die Realität - dabei sind sie nichts anderes als ein Spiegel seines Lebens. So kann sein Leben nicht nur Literatur, sondern seine Literatur realisiert sich selber. So lebt ein Paranoiker, und das ganze ist - wie sollte es anders sein - bei I. B. geklaut: "Die Furcht läßt das Gefürchtete wahr werden." Wie die Selbstinszenierung das Selbst ablöst, macht Woody recht nett plausibel. Ich persönlich habe sowieso schon länger das Gefühl, in einem Woody Allen-Film zu leben...
Ende des Geschwafels: in meinen gestörten Augen ENDLICH und definitiv der beste Film des Kinohalbjahres!