Autor | : | Egon Bahr | Verlag | : | Karl Blessing Verlag München |
ISBN-Nr. | : | 3-89667-069-7 | Preis | : | 24.90 DM |
Die Aufgabe mancher Politiker ist es, sich selbst überflüssig zu machen. Zu dieser Sorte gehörte während seiner Amtszeit als Staatssekretär und Bundesminister für besondere Aufgaben im Bundeskanzleramt von 1969 bis 1974 auch Egon Bahr. Der oftmals als "Architekt der neuen deutschen Ostpolitik" bezeichnete SPD-Politiker sorgte im Zusammenspiel mit seinen ebenfalls außenpolitisch engagierten Parteifreunden Willy Brandt und Herbert Wehner mit dem Grundlagenvertrag für einen Frühling in den deutsch-deutschen Beziehungen und mit den sogenannten Ost-Verträgen mit Polen und der UdSSR für ein Stückweit Entspannung im Kalten Krieg. Doch während Bundeskanzler Brandt für seine Ostpolitik mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, blieb Egon Bahr ein Mann der zweiten Reihe, der eher für die Strategie als für die Show zuständig war. Nachdem der 1922 geborene Bahr 1981 aus dem Amt des Bundesgeschäftsführers der SPD, das er seit 1976 inne hatte, ausschied, brachte er, ganz im Stile früherer praktischer Erfahrungen als Journalist bei verschiedenen Zeitungen und beim Radiosender RIAS, seine Kenntnisse in der Außen- und Sicherheitspolitik immer wieder über die Medien in die öffentliche Debatte ein. Dabei blieb die Entwicklung im Osten Europas stets seine Domäne und als der Ostblock ab 1989 zusammenbrach, schien es durchaus möglich, dass damit auch die politische Karriere des Egon Bahr als "elder statesman" ihr Ende gefunden haben könnte. Nicht zuletzt aufgrund der Herausbildung neuer Sicherheitsrisiken in Osteuropa und den Nachfolgerepubliken der Sowjetunion war dem jedoch nicht so. Auch wenn in jüngster Vergangenheit das Augenmerk der Medienöffentlichkeit in Fragen der Sicherheitspolitik eher auf den Balkan, den Nahen Osten oder diverse Krisenherde Schwarzafrikas gerichtet gewesen sein mag, verwundert es daher nicht, wenn sich Bahr in seiner unlängst erschienenen Streitschrift "Deutsche Interessen" einmal mehr der Sicherheitslage der Bundesrepublik unter besonderer Berücksichtigung Rußlands zuwendet. Dennoch läßt sich der Verdacht nicht von der Hand weisen, dass daher das Buch letzten Endes wenig zeitgemäß sein könnte.
Das erste Kapitel der "Deutsche(n) Interessen" trägt bezeichnenderweise den Titel "Wiederkehr der Machtpolitik". In ihm legt Egon Bahr in überzeugender Weise dar, warum die Ausübung von Macht im natürlichen Interessen eines Staates liegt und nichts ist, vor dem man als zivilisierter Mensch Angst haben müßte. Insbesondere soll Machtausübung ja auch darin bestehen, internationale Strukturen zu schaffen, die den Machtmißbrauch verhindern und selbst von den Staaten übertragene Macht ausüben sollen. Deswegen komme es darauf an, dass gerade auch demokratische Rechtsstaaten bereit sind, ihre Macht auszuüben - und nicht die Gestaltung internationaler Sicherheitspolitik anderen, skrupelloseren Staaten zu überlassen. Natürlich könne Machtausübung nicht für sich als sinn- und zweckentleertes Selbstziel bestehen. Deshalb komme es darauf an, dem Interesse des Staates dienende Ziele zu formulieren und diese dann nach ihrer Bedeutung für das Gemeinwesen abgestuft zu verfolgen. Hierbei orientiert sich der SPD-Politiker an einem 1996 vorgelegten Bericht einer aus zwanzig Sachverständigen bestehenden "Kommission für Amerikanische Nationale Interessen", in dem zwischen vitalen, herausragenden, wichtigen und sekundären Interessen unterschieden wird. In entsprechender Unterteilung formuliert Bahr die gegenwärtigen deutschen Interessen, wobei er unter Verweis auf den konzentrierten Charakter einer Streitschrift die sekundären Interessen ausdrücklich außen vor läßt. Das vitale Interesse deutscher Machtpolitik besteht seiner Auffassung nach darin, das erneute Entstehen einer Bedrohungsmacht im Osten zu verhindern, bzw., positiv gewandt, ein stabiles Gesamteuropa zu schaffen. Als herausragende Interessen seien die Erreichung globaler Handlungsfähigkeit Europas, die Vertiefung und Erweiterung bestehender Institutionen, die Erhaltung der nordatlantischen Sicherheitsstruktur und die Stärkung der Vereinten Nationen anzusehen. Als wichtige Interessen nennt Bahr schließlich noch "Stabilitätsbemühungen im Kaukasus und in Mittelasien, im Nahen und Mittleren Osten unterstützen; zur Gesundung Afrikas südlich der Sahara beitragen; die Wirtschaftsinteressen in Südostasien fördern".
Im folgenden werden die als herausragend eingestuften Interessen näher beleuchtet und politische Entscheidungen skizziert, die zu ihrer Erreichung beitragen könnten. Dabei tritt Bahr nachdrücklich für eine Stärkung der Europäischen Union ein, der man insbesondere durch Verzicht auf nationale Souveränität zu internationaler Handlungsfähigkeit verhelfen müsse, da nur so die gesamteuropäischen Sicherheitsinteressen ausreichend gewahrt werden könnten. Auch die außenpolitisch erhebliche strategische Bedeutung der gemeinsamen Währung, des Euro, mit der eine dem Dollar ebenbürtige Weltleitwährung etabliert werden könnte, hebt Bahr zu Recht hervor. Als Motor einer solchen europäischen Entwicklung setzt der ehemalige Brandt-Vertraute auf einen Schulterschluß zwischen Frankreich und Deutschland, mit dem nicht nur der europäischen Integration zu neuer Dynamik verholfen, sondern, wenn Frankreich wieder Vollmitglied der NATO werden würde, auch der europäische Einfluß im nordatlantischen Sicherheitsbündnis gestärkt werden könnte. Damit aber jenseits reiner Sicherheitspolitik rechtliche Maßstäbe auf internationaler Ebene geschaffen werden können, müsse auch die Stärkung der UN betrieben werden. Gerade um die Instrumentalisierung internationaler Strukturen durch die USA für deren Interessen zu verhindern, müßten die Vereinten Nationen als Ordnungsmacht etabliert werden. Hier fordert Bahr ein weitaus stärkeres Engagement Deutschlands ein - auch hinsichtlich der Beteiligung an militärischen Operationen der UN. Ein ständiger Sitz der Bundesrepublik im Sicherheitsrat sei wünschenswert, dürfe aber nicht durch wohlgefälliges Verhalten gegenüber den USA, Rußland, China, Frankreich und Großbritannien, den bisherigen ständigen Mitgliedern dieses höchsten Gremiums der Vereinten Nationen, erdient werden, sondern müsse vielmehr durch bewußt auf Stärkung der UN gerichtetes Handeln angestrebt werden.
"Was kann man schon von einer Organisation erwarten, deren Haushalt nicht einmal die Hälfte dessen beträgt, was die CIA ausgibt, und die für ihre friedenserhaltenden Aktionen über weniger als zehn Prozent des Geldes verfügt, das die größte amerikanische Rüstungsfirma, Lockheed-Martin, jährlich umsetzt ? Im Jahr 1992 unterhielten die UN so viele Friedensmissionen wie in ihrer ganzen Geschichte bis dahin. Der Etat dafür betrug drei Milliarden Dollar, während die Militärhaushalte der Nationalstaaten eine Billion Dollar vorsahen. Womit die UN ein ganzes Jahr auskommen mußten, verbrauchten die Armeen an einem Tag."
Im folgenden schildert der erfahrene Außenpolitiker seine Sicht der derzeitigen Sicherheitslage Deutschlands. In diesem Zusammenhang konstatiert er ein "Konzept der Konzeptlosigkeit" beim Westen, dem unverhofften Sieger des Kalten Krieges. Dabei geht er insbesondere berechtigerweise mit der fatalen Osterweiterung der NATO (vgl. den "Überfressen"-Kommentar in "AmigaGadget"#30) ins Gericht, die nur zu Irritationen Rußlands führen werde und den Beitrittsländern keinen nicht ohnehin schon sicheren Schutz bringen könne. Besonders interessant ist dabei das von Bahr verwendete Bild eines "Vakuums" zwischen der NATO und Rußland, das mit jedem der NATO beitretenden Staat komprimierter und damit für die Umgebung gefährlicher würde - "in Grauzonen entstehen Kriege" zitiert er den US-Bosnien-Vermittler Richard Holbrooke. Von besonderer Bedeutung für den unsicheren Kantonisten Rußland sei weiterhin die Lage in Mittelasien, der dem so wichtigen Erdöl nahen Region im Süden der Russischen Förderation. Auch hier bestehe Konfliktpotential zwischen dem ebenfalls dort engagierten Westen, respektive insbesondere den USA, und Rußland, welches sich jedoch andererseits langfristig selbst Chancen auf einen NATO-Beitritt ausrechne. Diese "russische Ungewißheit" verbunden mit der "amerikanischen Ungewißheit", dem von dem überhitzten Selbstbewußtsein der Vereinigten Staaten ausgehenden Irritationspotential bei verbündeten und anderen Nationen, stelle die große Unwägbarkeit für künftige sicherheitspolitische Entscheidungen dar.
Ausgehend von den so getroffenen Analysen des Ist-Zustandes entwickelt Bahr nun Schlußfolgerungen für unterschiedliche sicherheitspolitisch relevante Fragen, die für die deutsche Außenpolitik gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft anstehen. Hinsichtlich einer Osterweiterung der NATO müsse von Deutschland, das ganz besonderes Interesse an der Verhinderung einer möglichen Zuspitzung russischer Sicherheitsbedenken habe, konsequenter Widerstand erwartet werden. Statt dessen müsse über den "Rat der 17", der sich aus den sechzehn NATO-Mitgliedern und Rußland zusammensetzt, und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie den in ihrem Rahmen gestalteten "Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa" (KSE) versucht werden, das primäre Ziel einer gesamteuropäischen Stabilitätslage zu erreichen. Kooperation mit Rußland müsse Vorrang vor der Konfrontation mit dem Riesenreich im Osten haben. Darauf aufbauend entwirft Bahr eine "Vision" eines gemeinsamen "europäischen Hauses", in dem "nationale Stärke durch die Macht des Rechts" ersetzt wird. Doch natürlich ist aus dem erfahrenen Ostpolitiker nicht plötzlich ein weltfremder Träumer geworden und so räumt er umgehend ein, angesichts der "Wirklichkeit" könne es nur darum gehen, dieser Vision so nahe wie möglich zu kommen. Um sich nicht in rein theoretischen Ausführungen zu erschöpfen, stellt Bahr nun vier Grundsatzpositionen auf, denen sich eine deutsche Bundesregierung seiner Meinung nach verpflichten müsse und die im wesentlichen die oben bereits skizzierte Konzentration auf die Mechanismen der OSZE, der KSE und der "Grundakte" (in der das Verhältnis zwischen Rußland und der NATO geregelt wurde) sowie auf die enge Zusammenarbeit mit Frankreich als Zentrum einer europäischen Weltmacht enthalten. Von der eigenen Courage ganz erschrocken stellt Bahr im letzten der insgesamt zwanzig Kapitel die Gretchenfrage: "Können wir das überhaupt ?" - und bleibt eine letztgültige Antwort (natur- und erwartungsgemäß) ausdrücklich schuldig.
Eine "Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik" ist das Buch über "Deutsche Interessen" ausweislich seines Untertitels. Doch erfreulicherweise geht es um einen Streit in der Sache und nicht in der Sprache. Hier bleibt Bahr, ganz "elder statesman", bis auf gelegentliche Seitenhiebe auf die Regierung Kohl weitgehend moderat und handzahm. Dafür sind seine Aussagen inhaltlich um so konturierter. Dabei ist die von ihm angesichts der als gering eingeschätzten aktuellen Bedrohungslage Deutschlands aufgestellte Forderung nach einer Abschaffung der Wehrpflicht und einer Verkleinerung der Bundeswehr nur eine von vielen Festlegungen in Streitfragen, denen viele aktive Politiker lieber aus dem Weg gehen. Dass es dennoch gerade diese Forderung als vermeintlich werbewirksame Provokation auf den Buchumschlag geschafft hat, mag daran liegen, dass eine entsprechende Diskussion seit der Wiedervereinigung in schöner Regelmäßigkeit die Blätterwälder der Feuilletons durchweht. Das unterscheidet sie von dem Großteil der sonstigen Schlußfolgerungen, die Bahr in seinem gerade mal 158 Seiten starken (respektive schwachen) Buch zieht. Denn das von ihm beklagte "Konzept der Konzeptlosigkeit" ist nicht auf die globale Sicherheitspolitik beschränkt, sondern hat längst schon die nationalen Entscheidungsträger und die Bevölkerung befallen. Anders ist es kaum zu erklären, dass es Verteidigungsminister Volker Rühe in nicht einmal einer Dekade gelingen konnte, die bisher als reine Verteidigungsarmee definierte Bundeswehr nicht nur im Rahmen von UN-Einsätzen, sondern auch als NATO-Streitmacht außerhalb des Bündnisgebietes und unabhängig von kollektiven Verteidigungsmaßnahmen einzusetzen, ohne dass dahinter ein klar konturierter Plan zu erkennen wäre. Und ob der von den Medien bereitwillig gelieferten Schreckensbilder aus Bosnien nimmt es nicht wunder, dass der Blick für das große Ganze, für die Frage, wie die Sicherheit Deutschlands im einundzwanzigsten Jahrhundert garantiert werden kann, vom Schrecken vor der Haustür der EU verstellt wurde. Der in der Vergangenheit schon so oft fatal wirkende kollektive Gutmenschen-Charakter der Deutschen hatte mit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawien ein wehrloses Objekt endloser Debatten über Sinn und Unsinn eines Kampfeinsatzes bekommen, mit dem er sich während der letzten Jahre bis zum Exzeß beschäftigen konnte. Als globale Sicherheitsfragen galten vielleicht irgendwelche obskuren islamischen Fanatiker - ansonsten war der Feind eher der Freund, der Euro die einzige Bedrohung, die der deutsche Michel gegen sich selbst gerichtet sah. Erstaunlich ist, dass es ausgerechnet der sozialdemokratische Friedenspolitiker Egon Bahr ist, der von der Bundesregierung die selbstbewußte Wahrung eigener Interessen, die Emanzipation von den Vereinigten Staaten und den Mut zu einem Quantensprung auf dem Weg zu einer international handlungsfähigen europäischen Großmacht einfordert, während die Regierung Kohl Außenpolitik derzeit vor allem als Fortsetzung der Wirtschaftspolitik mit anderen Mitteln und direkter Unterstützung durch den Bundeskanzler anzusehen scheint. Erfreulicherweise bleibt Bahr bei aller Vision doch zu jeder Zeit Realist. Seine Vorschläge sind zum Teil provokativ, aber nicht polemische Konkurrentenschelte. Dabei ist "Deutsche Interessen" - schon aufgrund seines sehr begrenzten Umganges - kein politikwissenschaftliches Buch, sondern viel eher ein sicherheitspolitisches Manifest, das genug konkrete Forderungen enthält, um als Grundlage eines entsprechenden Regierungsprogrammes dienen zu können.
"Das Deutsche Reich zwischen den beiden Kriegen war größer als die Bundesrepublik. Die Weimarer Republik hatte keine Verbündeten und lebte mit 100 000 Soldaten sicher. Die Bundesrepublik ist von Verbündeten umgeben, nicht bedroht und behauptet, 340 000 Soldaten zu brauchen. Das wirkt komisch."
Die Positionen, die Bahr vertritt, begründet er sprachlich gewitzt, untermauert von zahlreichen Zitaten bekannter Politgrößen wie etwa Henry Kissinger, Helmut Schmidt und - natürlich - Willy Brandt. Dass er seine zahlreichen Thesen auf eher engem Raum entwickeln muss, macht sich zum Glück nur gelegentlich negativ bemerkbar, etwa wenn er ohne darauf hin zu weisen die Einschätzungen der "Kommission für Amerikanische Nationale Interessen" mit den tatsächlichen Interessen der USA gleichsetzt. Etwas vermißt man auch die Einschätzung der Auswirkungen des etwa von Huntington prophezeiten "Kampf der Kulturen", insbesondere der Konsequenzen, die eine zunehmend erstarkende Weltmacht China auf die globale Sicherheitslage haben wird. Der islamistische Fundamentalismus schließlich spielt bei Bahr ebenfalls lediglich eine kleine Rolle am Rande des Geschehens. Hier hätte man sich etwas ausführlichere Untersuchungen und Stellungnahmen gewünscht. Auch Hinweise auf die mit der geforderten Abschaffung der Wehrpflicht verbundenen Folgen für den Zivildienst und damit für das Gesundheits- und Sozialsystem der Bundesrepublik, das sich auf einen Schlag um tausende billige Arbeitskräfte beraubt sähe, fehlen leider völlig. Davon abgesehen können Bahrs Analysen jedoch überzeugen und seine Vorschläge sind es allemal wert, ernsthaft bedacht zu werden. In ganz besonderer Weise lobenswert ist es, wenn Bahr auf die Notwendigkeit von UNO-Mandaten für militärische Operationen der NATO insistiert und zu Recht darauf verweist, dass es anderenfalls kaum möglich sei, anderen Hegemonialmächten das Recht abzusprechen, ihre Interessen mit militärischen Mitteln wahrzunehmen, wenn sie davon ausgehen könnten, dass ihr Handeln auch im Interesse Dritter ist. Damit stellt er sich gegen den ungedienten Volker Rühe, der erst jüngst wieder in Zusammenhang mit der Lage im Kosovo ein UN-Mandat für entbehrlich erklärte, und der damit, bewußt oder unbewußt, die Macht des Stärkeren über die Macht des Rechtes stellt, was in elementarem Widerspruch zu einer auf Dauer tragfähigen globalen Sicherheitsstruktur steht. Schon lange überfällig war auch das Plädoyer für die Vereinten Nationen, die, von den Nationalstaaten bewußt finanziell klein gehalten, ungerechtfertigterweise als Sündenbock die Versäumnisse und gezielten Konfliktverursachungen ihrer Mitgliedsstaaten ausbaden müssen. Und selbst die verfahrene Situation des Bosnienkonfliktes wird vom ehemaligen Bundesminister für besondere Aufgaben zutreffend analysiert - nicht ein zu später oder zu zögerlicher Einsatz der NATO, sondern die mangelnde Bereitschaft der Kriegsparteien, aufeinander zuzugehen, ist schuld daran, dass sich Bosnier, Kroaten und Serben nach wie vor feindlich gegenüber stehen und die SFOR-Truppen noch mindestens zwei Jahre vor Ort bleiben müssen, um ein Wiederaufleben der Kriegshandlungen zu verhindern.
Alles in allem ist Bahrs Streitschrift ein wichtiger und scharfsinniger Beitrag zur Bewertung und Konzeptionierung der deutschen Sicherheitspolitik, der sicher nicht jedermanns Zustimmung finden wird, den aber auch niemand, der sich für sicherheitspolitische Fragen interessiert, verpassen sollte.
"Die NATO kann durch massiven Einsatz Krieg ersticken und Waffenstillstände erzwingen, sie kann nicht friedlich demokratischen Aufbau befehlen und Menschenrechte durchsetzen. Da ist die OSZE überlegen. Und beide Organisationen versagen, wenn die Menschen oder die Gruppen sich nicht vertragen wollen und ihren Haß weiter pflegen. Keine internationale Organisation kann Versöhnung erzwingen."