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Shadow Gallery: Tyranny

Plattenlabel : Magna Carta Genre : Progressive Metal
Spieldauer : 73:54 min Preis : ca. 30 DM

Seit 1997 scheint das schon so oft totgesagte Genre der Konzeptalben eine regelrechte Renaissance zu feiern "IQ"s "Subterranea", "Ayreon"s "Into The Electric Castle" und "Nightfall in Middle Earth" von "Blind Guardian" seien nur exemplarisch genannt. Doch während die vorgenannten Exponenten dieses aktuellen Trends ihre Geschichten ausnahmslos im Bereich der Fantasy oder Science-Fiction ansiedelten, hat sich die sechs Mann starke US-Formation "Shadow Gallery" einen brisanteren Stoff ausgesucht. Zwar erzählen sie auf ihrem Ende 1998 erschienenen Album "Tyranny" auch eine fiktive Geschichte. Diese ist jedoch in der Zeit des Iran-/Irak-Krieges angesiedelt und knüpft auch ansonsten an wahre Begebenheiten und Geschehnisse an. Dabei handelt "Tyranny" von Politik, Moral, Religion und Liebe - und das alles verstreut über eine Rahmenhandlung und zahlreiche parallel laufende Randgeschichten. Angesichts eines solchen Konzeptes darf man das Schlimmste befürchten, haben sich "Shadow Gallery" damit doch mehr vorgenommen als weitaus erfahrenere und bekanntere Bands bislang zu schultern wagten.

Zu der Geschichte, auf der "Tyranny" basiert, wurde "Shadow Gallery"-Bassist Carl Cadden-James durch die Biographie eines Mitgliedes des Beraterstabes, der Oliver Stone bei seinem Paranoia-Projekt "JFK - Tatort Dallas" zur Seite stand, inspiriert. Wie dieser Mann hat auch der Protagonist von "Tyranny", eine hochintelligente, in Elektrotechnik und Informatik ausgebildete Person, für die US-amerikanische Rüstungsindustrie im Nahen Osten gearbeitet. Und ebenfalls wie das reale Vorbild befallen den "Tyranny"-Hauptdarsteller ernste Zweifel an seinem Tun, als er die Auswirkungen der von ihm mitentwickelten Waffen sieht - in Minenfeldern des Iran-/Irak-Krieges verkrüppelte Kinder, Tod und Elend in unvorstellbaren Dimensionen. Seine Gewissensbisse bringen ihn dazu, die Politik seiner Firma, die Waffen bevorzugt an beide Parteien eines Konfliktes verkauft, zu hinterfragen und Nachforschungen über die Zusammenhänge zwischen politischen Entscheidungen und wirtschaftlichen Interessen anzustellen. Das bleibt auch seinem Arbeitgeber nicht verborgen - und so erhält der "Tyranny"-Protagonist seine Kündigung und wird zurück in die Vereinigten Staaten geschickt. Dort verfällt er zunehmend in Resignation und auch sein Versuch, mit Hilfe des Internets eine völlig neue Welt zu betreten, hilft ihm zunächst nicht weiter. Zwar lernt er auf diesem Wege eine Frau kennen, diese erweist sich jedoch als eine Art Informationsterroristin, deren Erzählungen und Erkenntnisse seine fatalistische Weltsicht nur noch verstärken. Schließlich versinkt er in völlige Depression und scheint mit der Welt abgeschlossen zu haben.

"Where I ride into the sunset
I race towards the dawn
I might have been a hero
A king and not just a pawn
But that's the way that the story goes you know
`It's not that way for me'
And I wake up cold and lonely
And stare into the screen."

Den Wendepunkt markiert schließlich ein eigentlich trauriges Ereignis - der Tod seines Vaters. Von dessen Sterbebett kehrt der Hauptdarsteller der Geschichte mit einer Art heiligem Zorn in sein Appartment nach Manhattan zurück, entschlossen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und das Spiel der mächtigen Strippenzieher hinter den Kulissen nicht mehr mitzuspielen. Um gleichzeitig seine Internet-Bekanntschaft für sich zu gewinnen, entschließt er sich zu einem Akt des Cyber-Terrorismus. Er entwickelt einen Computervirus, den er in den Zentralrechner des World Finance Transaction Computer Networks in Brüssel, einem Konsortium der etwa 1000 größten Banken der Welt, einschleust. Danach führt er - erstmals - eine Telefongespräch mit seiner Bekannten, in der er ihr erzählt, dass er von nun an auf der Flucht sein müsse. Ihre einzige Hoffnung sei, sich an einem Ort zu treffen, dessen Koordinaten er ihr verschlüsselt übermitteln werde. Kaum ist das Gespräch beendet, bestätigen sich seine Befürchtungen. Über seine Internet-Chatbox nimmt plötzlich jemand mit ihm Kontakt auf - ein Mitglied der heimlichen Führungselite der Welt, Präsident eines großen internationalen Bank-Kartells. Dieser teilt dem Protagonisten mit, dass man seine Aktionen entdeckt, aufgezeichnet und den Weg zu ihm zurückverfolgt habe. Gleichzeitig gesteht der virtuelle Besucher, dass alle scheinbar paranoiden Theorien der Wahrheit entsprechen.

"Advanced communication
You're at our fingertips now
We own the TV stations
Entertainment, Publications
Wall street is our breeding ground
The sphere of our control extends through
Governments and leaders who will buy our arms
Yes buy our arms and run our evil wars
Run our evil wars, run this evil world into the ground"

Auf einmal klopft es dann in der realen Welt des "Tyranny"-Protagonisten an der Tür ("Open up, we know you're in there."). Das FBI stürmt seine Wohnung, nur mit Mühe gelingt ihm die Flucht. Nach einer Jagd, die ihn fast durch die halben USA führt, schafft er es schließlich die Verfolger abzuschütteln. Auf seinem einsamen Weg zum verabredeten Treffpunkt realisiert er dann, dass er etwas wiedergefunden hat, was er für immer verloren geglaubt hat - die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, den Frieden mit sich selbst. Die Geschichte endet dann damit, dass er am Heiligen Abend den Ort der geplanten Verabredung mit seiner Bekannten aus dem Internet erreicht, ein wärmendes Feuer anzündet und auf sie wartet.

Wie so viele paranoid angehauchten Geschichten um globale Verschwörungen und die Arroganz der Macht verfügt auch der Plot zu "Tyranny" über eine sehr starke Faszinationskraft. Gelungen sind hier auch der sorgfältige Aufbau des Spannungsbogens entlang des Verlaufes eines Jahres und die strukturelle Zweiteilung des Werkes: während im ersten "Akt" der Protagonist systematisch dekonstruiert wird und alles verliert, woran er glaubte, erschafft er sich im zweiten Akt neu und besinnt sich zurück auf die einfachen Dinge, die die menschliche Existenz letztlich ausmachen. Nicht minder packend stellt sich das Werk jedoch auch in musikalischer Hinsicht dar. Das beginnt mit dem furiosen Instrumental-Intro "Stiletto in the Sand (Jihad)", in dem die Band die E-Gitarren so richtig knacken läßt, und wird bis zu den letzten Akkorden des wunderschönen Schlußstücks "Christmas Day" durchgehalten. Anders als so viele starke Alben besitzt "Tyranny" keine musikalische Achillesferse, jeder Song ist ein kleines Kunstwerk. Dabei halten "Shadow Gallery" geschickt die Ballance zwischen härteren Nummern, in denen sich Brendt Allman und Gary Wehrkamp heiße Gitarrenduelle liefern und die Rhythmussektion aus Schlagzeuger Joe Nevolo und Bassist Carl Cadden-James ein schweißtreibendes Tempo vorgibt, und sanften Balladen, bei denen es sich bezahlt macht, dass die Band mit Chris Ingles und Gary Wehrkamp über zwei etatmäßige Keyboardspieler und Pianisten verfügt. Unerstützt wird die melodische Komponente des Albums auch durch den von der E-Musik kommenden Violonisten Paul Chou, der auf "Spoken Words" und "New World Order" Gastauftritte hat. Da "Tyranny" im wesentlichen aus Gesprächen besteht - primär Monologen des Protagonisten aber auch Dialogen mit anderen Charakteren - kommt dem Gesang natürlich besondere Bedeutung zu. Bemerkenswert ist hier nicht nur die tadellose Vokalbarbeit Mike Bakers, in der er gelegentlich durch seine Kollegen Cadden-James, Allman und Wehrkamp, die die "Backing Vocals" übernehmen, unterstützt wird. Für die anderen Rollen haben sich "Shadow Gallery" jedoch von außerhalb Hilfe geholt. James LaBrie von "Dream Theater" hat einen Mini-Auftritt als Vater des Protagonisten, der ihm seine letzten Worte mit auf den weiteren Lebensweg gibt. Mehr Text hat da schon D.C. Cooper, der Leadsänger der schwedischen Band "Royal Hunt". Er singt den Wirtschaftsboß, der den Protagonisten der Handlung in dessen Chatbox über die Zusammenhänge aufklärt. Die beeindruckendste Leistung der Gastvokalisten vollbringt jedoch die weithin unbekannte Laura Jaeger. Ihre Rolle der geheimnisvollen Internet-Bekanntschaft (in "Spoken Words") hat sie hochschwanger gesungen - die Band hatte aus diesem Anlaß eigens die Aufnahmeausstattung zu ihr nach Hause gebracht. Und der Aufwand hat sich gelohnt. Miss Jaegers Stimme passt perfekt zu dem mysteriösen Charakter, dem sie sie verleiht. Aber auch in anderer Hinsicht wird der Handlung musikalisch Rechnung getragen. So ertönen immer wieder - mehr oder weniger leise - Geräusche, die in engem Zusammenhang mit dem momentanen Geschehen stehen, wie z.B. das Klingeln eines Telefons vor "Spoken Words" oder das Rauschen eines Modems in "Mystery". Das alles trägt dazu bei, dass "Tyranny" ein musikalischer Hochgenuß für Freunde kraftvoller und energiereicher, dabei aber stets auch melodischer Rockmusik geworden ist.

Drei Jahre haben "Shadow Gallery" an ihrem neuen Album gearbeitet und wären dabei beinahe auseinandergegangen - doch es hat sich gelohnt. War der qualitative Unterschied zwischen ihrem selbstbetiteltem Debüt und dem Nachfolger "Carved In Stone" gewaltig gewesen, so halten sich die Unterschiede in der Qualität der Produktion diesmal zwar in Grenzen. Dennoch merkt man "Tyranny" an, dass sich Carl Cadden-James, der als treibende Kraft hinter "Shadow Gallery" die Dinge am Laufen hält, und seine Bandkollegen auch in dieser Hinsicht noch einmal ein Stückchen verbessert haben. "Tyranny" ist eine nahezu perfekt produzierte CD - was angesichts des kleinen Etats, mit dem sie realisiert wurde, besonders bemerkenswert ist. Dabei haben die sechs Musiker (einschließlich Neuzugang Joe Nevolo) ihr neues Album mit einigen Anspielungen auf den Vorgänger "Carved In Stone" versehen - so zitiert "Ghost Of A Chance" beispielsweise motivistisch die Ballade "Alaska" von nämlicher CD. Und der "Carved In Stone"-Opener "Cliffhanger" ist thematisch eng mit dem Teil von "Tyranny" verbunden, in dem sich der Protagonist auf der Flucht vor den Behörden befindet. In Verbindung mit einer als Hintergrund unter die Liedtexte gedruckten Notiz über den geplanten Fluchtort bleibt dem Hörer somit nicht allein der passive Konsum der Musik, er hat auch einiges zu entdecken und zu enträtseln. Erfreulicherweise stimmen dann auch die sonstigen Details - das Booklet enthält alle Songtexte und das CD-Cover, gestaltet von Rainer Kalwitz, zeigt inmitten einer von innen her verbrennenden Weltkarte eine sich um ein Schwert windende Schlange. Das symbolisiert auf Trefflichste die sicherlich bestreitbare Aussage eines Albums, das das Zeug dazu hat, zu einem Klassiker des Progressive Metal zu werden. Verdient wäre es allemal.

(c) 1999 by Andreas Neumann

"I feel abandoned feel like
Screaming at the walls
Too bad the walls have ears
This never ever should have been
But that's the way it is."

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