Das mußte ja so kommen. Seit Monaten predigen die (zumeist selbsternannten) Gurus der Branche die Konvergenz der Netze und Dienste, das Zusammengehen verschiedener Medien und ihrer Übertragungswege. Da ließ es sich für eine dem Zeitgeist verhaftete Institution wie dem Hamburger Nachrichtenmagazin "SPIEGEL" natürlich kaum mehr verantworten, die März-Ausgabe der hauseigenen "special"-Reihe wie in den Vorjahren ausschließlich der Welt der Computer und der Datennetze zu widmen. Und so hat man sich diesmal bei der Sonderveröffentlichung des CeBIT-Monats mit dem ganz allgemein gehaltenen Titel "Info-Sucht" und dem programmatischen Untertitel "Der Mensch im Netz der Medien" begnügt. Die Befürchtung, dass das EDV-Special des "SPIEGEL"-Verlages damit im alles verschlingenden Schlund der Konvergenz verschwunden ist, wird durch einen Blick ins Inhaltsverzeichnis bestätigt. Fünf Themenbereiche finden sich dort aufgereiht - und das "Internet" ist nur an vierter Stelle, zwar noch vor dem "Hörfunk" aber erst nach "Presse" und "Fernsehen" genannt. Haben die "SPIEGEL"-Macher vor der Komplexität der mit dem Datennetz und der modernen Computertechnik verbundenen Fragestellungen endgültig kapituliert ? Oder wird lediglich ein Kontrapunkt zu dem von zahlreichen technikgläubigen Medien erzeugten Internet-Hype gesetzt ?
Vor Beginn des ersten Kapitels hat der Herr, in diesem Fall also Chefredakteur Andreas Wrede, noch zwei offensichtlich nicht eindeutig kategorisierbare Beiträge plaziert. In einem "Risiko, Privileg" betitelten Kommentar feiert "SPIEGEL"-Herausgeber Rudolf Augstein die Medien im allgemeinen, sowie sein Magazin und sich selbst im besonderen. Der in politischen Dingen stets scharfsinnig formulierenden Journalistlegende gerät der Blick auf Macht und Ohnmacht der Medien nur unscharf, scheint er doch durch die nostalgische Erinnerung an die (natürlich wieder erwähnte) "SPIEGEL"-Affäre und die weitere Geschichte des Blattes getrübt. Der zweite vorweggenommene Beitrag ist in Wirklichkeit keiner - unter der Überschrift "Aspekte" werden vermischte Kurzmeldungen aus der Welt der Medien zusammengefaßt. Unklar bleibt aber, wen es interessieren soll, dass Nina Ruges erste journalistische Arbeit ein Beitrag zu einer Hundekot-Kehrmaschine war. (Unfreiwillig) Amüsant sind hingegen acht Kurzstellungnahmen, in denen "Medienmacher und Mediennutzer erzählen, wie die Botschaft ankommt". ZDF-Moderatorn Petra Gerster wird dort mit den Worten zitiert: "Die Kleidung muß dezent sein, rot und grellgelb sind tabu." Das direkt darunter zu sehende Foto zeigt Frau Gerster mit roter Bluse. Widersprüchlichkeiten des Medienlebens.
Um die Auswirkungen, die die verschiedenen Medien auf unser Alltagsleben haben, geht es dann in den insgesamt elf Beiträgen der Rubrik "Gesellschaft". Dabei wird schon in den ersten Artikeln klar, wohin die Reise geht. Man ist kritisch gegenüber den "leichtfertigen Glücksverheißungen der Kommunikationsindustrie", prangert den "Terror der Erreichbarkeit" an und preist - wie die eigentlich sonst immer sehr wortgewandte "SPIEGEL"-Redakteurin Marianne Wellershoff in einer unsäglich schlechten Reportage über einen einwöchigen Aufenthalt in einem Kloster - die "Stille der Gedanken". Neil Postman wäre stolz ob soviel medienkritischem Bewußtsein. So wird wieder einmal das (eigentlich schon lange widerlegte) Ammenmärchen von der sozialen Isolation durch verstärkte Nutzung moderner Informations- und Kommunikationsdienste aufgewärmt. Es wird, wie schon beim Siegeszug des Fernsehens, vor einer Trivialisierung der Inhalte zu Gunsten der Form, vor einem Sieg des Show über den Inhalt gewarnt. Und es wird mit keiner Silbe erwähnt, dass auch die neuen Medien nur Hilfsmittel sind, dass es der Mensch ist, der entscheidet, was und mit wem er kommunizieren möchte, dass Wertungen über diese Entscheidung somit Wertungen über den Charakter der Menschen selbst sind. Das soll nicht heißen, dass Medienkritik per se unmöglich sei. Mitnichten. Nur, so plump, wie sie hier zelebriert wird, funktioniert sie nicht. Aber damit leider nicht genug. Mit einer Emnid-Umfrage wird noch innerhalb der "Gesellschaft"-Rubrik bewiesen, dass man Medien wirklich falsch benutzen kann - auch wenn man sie selbst füllt. Der Sinn einer Frage, in welches TV-Programm insgesamt acht Politiker jeglicher politischer Couleur am besten passen, bleibt jedenfalls im Dunkeln. Allemal interessanter, aber auch vom Geist des ach so kritischen Medienpessimismus durchzogen, ist dann ein Interview mit der inzwischen 82jährigen US-Nachrichtensprecher-Legende Walter Cronkite, der für seine "Evening News" beim Sender CBS berühmt geworden ist. Gleichfalls lesenswert sind auch zwei Beiträge über die nach wie vor nicht totzukriegende Rohrpost und über die Arbeit der EU-Kommission im Bereich der Medienkontrolle. Um so stärker fällt eine Kolumne von "Supernase" Mike Krüger ab, in der er versucht, mit seinem Schenkelklopf-Humor den "schwierigen Umgang mit elektronischem Gerät" aufs Korn zu nehmen. Glücklicherweise ist dieser Beitrag gerade mal eine Seite lang. Weitaus umfangreicher und von einem faszinierenden Ansatz ausgehend ist hingegen der letzte Artikel der Rubrik "Gesellschaft". Unter der Überschrift "Unsichtbare Schönheit" sind in großflächigen Formaten Motive dargestellt, von denen seit ihrer Geburt blinde Menschen sagen, dass sie sie für schön halten - ein beeindruckendes Zeugnis einer ganz anderen Art der Wahrnehmung.
"Ich verzichte auf das Schöne. Ich habe das Schöne nicht nötig, ich brauche keine Bilder im Kopf. Weil ich Schönheit nicht genießen kann, bin ich immer davon geflohen."
Damit befinden wir uns aber auch schon bereits auf Seite 64 - die erste von fünf Rubriken hat ungefähr ein Drittel des gesamten Heftumfangs in Anspruch genommen. Die nächsten dreißig Seiten gehören ganz der "Presse". Die Vertreter der "viertklassigen Gewalt" bekommen zunächst in einer scharfen und gewitzten Polemik des ehemaligen "Stern"-Chefredakteurs Michael Jürgs ihr Fett weg. Zwar gießt auch er ätzende Medienkritik über den Opfern seiner Attacke aus - dieser Beitrag ist aber ehrlicherweise ausdrücklich als "Polemik" gekennzeichnet. Erfreulich geht es weiter - lediglich zwei Seiten nimmt diesmal nämlich der früher immer überflüssig aufgeblähte berufsberatende Teil der "SPIEGEL special"-Ausgabe ein. Und auch die Reportagen über die "Hildesheimer Allgemeine Zeitung", Deutschlands ältestes Lokalblatt (seit 1705), und Steven Brill, den Inquisitor der US-amerikanischen Presseszene, der in seinem Magazin "Brill's Content" unbarmherzig handwerkliche Fehler seiner Journalistenkollegen aufdeckt, sind sehr lesenswert, was im übrigen auch für einen kurzen Kommentar zur Leselust Jugendlicher aus der Feder der Chefredakteurin einer im letztjährigen "SPIEGEL"-Wettbewerb ausgezeichneten Schülerzeitung gilt. Eher der Abrundung dienen dann schließlich eine etwas wirre Kolumne zum Thema "Exzentriker" und eine Fotoserie über mögliche Verwendungszwecke für die "Zeitung von gestern" (etwa als Brennstoff im Lagerfeuer, als Sonnenschutz oder als Vorlage für ein Erpressungsschreiben).
"Selbstverständlich sind die meisten Journalisten - knapp
51 Prozent - intelligente, witzige, gebildete, höfliche, nüchterne, treue,
bescheidene, ehrliche, mutige, unbestechliche, tolerante, unparteiische,
verantwortungsbewusste, wahrheitsliebende Moralisten mit aufrechtem Gang - und
vertraut mit allen Feinheiten der deutschen Sprache.
In diesem Text geht es also vorwiegend um die anderen."
Mit dem "Fernsehen" beschäftigen sich nun insgesamt sechs Beiträge. Eröffnet wird der Reigen von einem Text von Nikolaus von Festenberg, dessen Artikel im "SPIEGEL" immer wieder zu den Höhepunkten einer Ausgabe zählen. Und so nimmt es nicht wunder, dass auch "Das Rätsel des Erfolges" ein geistreiches und treffsicheres Statement zur (Un)Möglichkeit, ein Erfolgsrezept für eine Fernsehsendung zu enwickeln, ist. Bei aller Kritik erkennt man in Festenbergs Zeilen, und das macht sie zu etwas besonderem, auch immer wieder seine Sympathie zu diesem Medium. Zwei, die dem Fernsehen ebenfalls in einer Art Hassliebe zugetan sind, führen im Anschluß an Festenbergs Artikel ein interessantes "Streitgespräch": der ehemalige RTL-Chef Helmut Thoma und der ehemalige "ZAK"-/"privatfernsehen"-Moderator Friedrich Küppersbusch legen ihre Sicht der Dinge zwischen Himmel und Satellitenempfänger dar. Dabei trügt die Bezeichnung - gestritten wird überraschend wenig, der Linksintellektuelle Küppersbusch und TV-Manager Thoma entdecken mehr Gemeinsamkeiten, als ihnen eigentlich lieb sein sollte. Zwei gute Kurzreportagen beschäftigen sich daraufhin mit dem Kampf um die Telefon- und TV-Kabelnetze einerseits und der Geschichte der Fernbedienung andererseits. Zum Abschluß des televisionären Teils des Heftes stattet Jörg Böckem, ein in Hamburg tätiger freier Journalist, dann noch einem ungewöhnlichen Fernsehstar des Jahres 1974 einen Besuch ab. Walter Wörle spielte vor 25 Jahren in der erfolgreichen ZDF-Serie "Unser Walter" die Rolle eines unter Trisomie 21 ("Down-Syndrom") leidenden Jungen - und damit beinahe sich selbst. Denn auch im wirklichen Leben hat Wörle diese geistige Behinderung. Als interessanteste Erkenntnis der bisweilen schrecklich politisch korrekten Reportage bleibt die Aussage des derzeitigen Programmdirektors des ZDF, dass eine Wiederholung der Serie im Hauptprogramm undurchführbar sei, da sich die Rezeptionsgewohnheiten geändert hätten - weil Serien "im Werberahmenprogramm Geld einbringen müssen". So schauffelt man das Grab des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seines Programmauftrages. Auch in der Sache faszinierend ist dann aber wieder ein Bericht über Fritz Lehmann, einen genialen Tüftler der TV-Technik, der das Pech hatte, immer vom Zeitgeist verpasst zu werden und somit mit seiner Errungenschaft der Frontprojektion letztlich nur als Fussnote in die Chroniken der Fernseh- und Filmschaffenden eingehen wird. Eine Geschichte, fast so tragisch wie ein Hollywood-Drama.
"Anders als ihre historischen Vorgänger, die Prinzipale des Theaters und der Oper, können die Damen und Herren des Fernsehens kein gesteigertes, von Bildungsbeflissenheit oder Erziehung angeheiztes Interesse voraussetzen. Der TV-Zuschauer ist ein geborener Faulpelz, müde, abgespannt und wenig bereit, sich an eine Sendung zu binden. Er will überredet, umschmeichelt und gewonnen werden."
Und endlich, endlich ist es dann soweit. Über gerade mal siebzehn Seiten erstreckt sich der "Internet"-Teil des Heftes. Aber damit nicht genug - mit Ausnahme eines einzigen Beitrages befassen sich alle hier zusammengefaßten Artikel weniger mit dem Datennetz selbst denn mit seiner Wechselwirkung mit anderen "herkömmlichen" Medien. Das beginnt schon mit einem (allerdings durchaus interessanten) Interview mit dem Romanautor Matthias Politycki ("Weiberroman"), der sein neues Werk "Marietta" weitgehend unter den Augen der Netzöffentlichkeit entwickelt und in dem Interview von den dadurch bedingten Änderungen der Arbeitsweise eines Schriftstellers berichtet. Gelungen ist auch die folgende Kurzreportage über Matt Drudge, der mit seiner Internet-Gerüchteküche, dem "Drudge Report", schlagartig berühmt wurde, als er die Geschichte von Monica Lewinsky erstmals publik machte. Der einzige "SPIEGEL special"-Artikel, der sich mit Internet-Spezifika auseinandersetzt, ist gleichzeitig der schlechteste dieses Teils. Heike Faller berichtet von ihren Erfahrungen mit ihrem "Avatar", einem digitalen Alter Ego in einer künstlich generierten Welt. Der Artikel suggeriert, dass diese Art der Internet-Nutzung nachgerade Netzalltag sei, dass virtuelle 3D-Welten in Wirklichkeit das Netz seien. Bei aller schriftstellerischen Brillianz hätte man sich hier doch eine etwas nüchternere Berichterstattung gewünscht. Die gibt es dann glücklicherweise im Anschluß wieder. "Im Netz des Nekronauten" berichtet von einem Internet-Projekt, das der Erforschung, Katalogisierung und Beschreibung historischer Medien gewidmet ist. Dass damit das Objekt der Betrachtung letzten Endes das Medium selbst und das Internet nur ein Werkzeug zur Koordinierung des "Dead Media Projekt" ist, kennzeichnet einmal mehr recht markant die Art und Weise, in der man sich in "Info-Sucht" dem Datennetz nähert. Das gilt auch für den in Form eines chronologischen Berichtes aufgebauten Artikel über eine New Yorker Privatdetektivin, die das Internet als Recherchemedium nutzt. Völlig unklar ist der Bezug zum Thema Internet schließlich beim letzten Beitrag dieser Rubrik. "Präsent mit Star Wars" berichtet von einer Dresdner Firma, die CD-ROM-Präsentationen erstellt - das Kabel zum CD-Brenner als "Internet" ?
"Trotzdem soll die nächste Version von Active Worlds mit verbesserter Demokratiefunktion auf den Markt kommen. Dann gibt es in der Benutzeroberfläche eine Abstimmungstaste: Active Worlds ist zwar ein Produkt - aber es lebt davon, dass viele Leute glauben, im falschen Leben gebe es ein echtes."
An der Schnittstelle zwischen dem Internet und dem Thema der nächsten Rubrik, dem "Hörfunk", formal aber ausschließlich diesem zugeordnet, befindet sich der Beitrag "Agenten für das Liebste". Er schildert die neuen Möglichkeiten, die sich für den Hörfunk-Teilnehmer durch die Verbreitung von Radioprogrammen über das Internet eröffnen, und ist damit der mit Blick auf die tatsächliche Entwicklung des Datennetzes wohl relevanteste Beitrag dieses Sonderheftes. Das krasse Gegenteil stellt dann ein Artikel über den Hamburger Anarcho-Radiokanal Freier Sender Kombinat (FSK) dar, in dem mit leisem und durchaus mitfühlendem Spott vom Versuch eines unter völligem Verzicht auf kommerzielle Finanzierung verwirklichten Radioprogrammes berichtet wird. Als einer der wenigen prominenten Gastautoren stellt dann "Frühstyxradio"-Mitbegründer Dietmar Wischmeyer die Frage, ob Radio nur noch Fast Food sei, und beantwortet sie denn auch gleich in seiner bewährten lakonisch-trockenen Art. Es folgen ein kurzer Beitrag über das Magazin "Hörwelt", das sich mit Wortsendungen im Radio beschäftigt und - außerhalb aller Rubriken - ein ausführlicher Artikel über die Tätigkeit eines Fotoreporters zwischen den Fronten der Israelis und der Palästinenser. Ein "Brief aus Rio", in dem der dortige "SPIEGEL"-Korrespondent von brasilianischen Fernseh(un)sitten berichtet, die Hans Meiser, Arabella Kiesbauer und Konsorten wie harmlose Waisenkinder aussehen lassen, beendet dann die "Info-Sucht".
"Von mehreren hundertausend spielbaren Popsongs sucht sich der Formatgestalter die dreihundert langweiligsten aus und nudelt sie durch seine `hot rotation'. Kaum glaubt man eine langweilige Ballade überwunden, quillt dasselbe nölige Lala schon wieder aus dem Lautsprecher. Einzige Bedingung an einen Radiotitel ist dessen über Jahre ausgewiesene Mittelmäßigkeit. Formatradio ist Fastfood fürs Ohr: Es schmeckt nicht richtig eklig, aber eben auch nicht gut."
Die computerlastigen März-Sonderhefte des "SPIEGEL"-Verlages waren bislang gewissermaßen immer Seismographen für die Nachbeben der tatsächlichen Entwicklungen im IT-Bereich. Die breite inhaltliche Streuung von "Info-Sucht" könnte somit Indiz für einen Paradigmenwechsel weg vom als Heilsbringer herbeigesehnten Internet sein. Andererseits könnten sich die Hamburger Magazinmacher aber auch lediglich verstärkt Themen zugewandt haben, zu denen sie kompetent und fachlich versiert etwas beisteuern können. Vor voreiligen Schlüssen sei somit gewarnt. Der trotz aller soziologisch-politologischer Nebelkerzen früher immer gegebene starke Bezug zur Welt der Bits und Bytes ist jedenfalls - vielleicht sogar unwiderbringlich - verloren. Was das März-Special des "SPIEGEL" jedoch nicht zwingend unattraktiver macht. Unbedingt gelesen haben muss man es aber nach wie vor erst recht nicht.