Wenn man spontan zwei Dinge nennen soll, die überhaupt nicht zusammenpassen, würden einem möglicherweise Feuer und Wasser, Himmel und Hölle, Dieter Bohlen und Verona Feldbusch einfallen. Oder aber: ein ländlich-traditionell geprägtes Volksfest und eine auch härteren Stücken nicht abgeneigte Rockband. Letzteres scheint sich aber entgegen dem ersten Eindruck der Unvereinbarkeit bewährt zu haben, denn nachdem die britische Rocklegende "Jethro Tull" bereits 1997 auf dem damals in Korbach abgehaltenen Hessentag spielte, gehörte sie auch 1999 - neben anderen Rock- und Pop-Acts wie Bryan Adams - in das Programm dieser ansonsten primär von Jahrmärkten und Festtagsumzügen geprägten Veranstaltung. Obwohl der Hessentag diesmal im nordhessischen Baunatal (bei Kassel) und daher nicht unbedingt in unmittelbarer Nähe Marburgs stattfand, war das natürlich sehr verlockend, zumal die Eintrittskarte im Vorverkauf für konkurrenzlos preiswerte 20 DM (zuzüglich einer Vorverkaufsgebühr von 3 DM) zu bekommen war. Also hieß die Devise am 17. Juni: auf zum Hessentag !
Dort angekommen galt es zunächst, sich vorbei an Würstchenständen, Schießbuden und Jahrmarktaufbauten durch die durchaus vorhandenen Menschenmengen hindurchzukämpfen. Erfreulicherweise hatten die Organisatoren des Hessentages für eine sehr gute Beschilderung gesorgt, so dass das Festzelt, in dem das Konzert stattfinden sollte, leicht zu finden war. Dort gab es neben unfreundlichen Verkäuferinnen, bleichen Bratwürsten und fettigen Pommes natürlich auch sehr viel (teueres) Bier, so dass man sich bereits vor Konzertbeginn ein wenig in Stimmung bringen konnte. Um halb acht war das gewaltige Zelt dann gut gefüllt und es konnte die Vorgruppe mit ihrer undankbaren Arbeit beginnen. Angekündigt wurden "Paddy goes to Holyhead" von einem Moderator des das Konzert präsentierenden öffentlich-rechtlichen Radiosenders hr3 als eine Band, die eigentlich selbst Headliner sein könnte. Angesichts der beeindruckenden Zahl der bereits veröffentlichten "Paddy"-Alben scheint das eine durchaus zutreffende Einschätzung zu sein. Und so sah man denn auch in Baunatal zahlreiche Fans in "Paddy goes to Holyhead"-T-Shirts, für die das eigentliche Ereignis des Tages wohl nicht der Auftritt von "Jethro Tull" gewesen sein dürfte. So gab es dann auch großen Applaus, als die Band um "Schmidt", wie sich der Sänger und Kopf der Gruppe selbst schlicht nennt, die Bühne betrat und gleich mit dem ersten Stück loslegte. Musikalisch bewegen sich "Paddy goes to Holyhead" in dem Territorium, das beispielsweise auch von "Fiddler's Green" bevölkert wird - unbeschwerter Irish-/Celtic-Folk-Rock mit englischen Texten, in denen zum Teil sozialkritische Themen aufgegriffen werden. Dabei findet, ebenfalls wie bei den Kollegen von "Fiddler's Green", eine Geige als oftmals dominierendes Instrument Verwendung. Und so legte die Band mit dem seltsamen Namen zur Freude des fröhlich mitgehenden Publikums auch gleich munter los, insbesondere Geigerin Helen Mannert fegte wie eine Derwischin über die Bühne. Doch plötzlich gab es ein plumpsendes Geräusch und der tapferen Streicherin hatte wohl die offen verlegte Verkabelung einen Streich gespielt. In der Rückwärtsbewegung war sie einfach umgefallen. Glücklicherweise hatte sie sich dabei aber nicht verletzt, so dass die ganze Szene primär zur Belustigung des Publikums beitrug. Der Rest der Band meisterte diese Situation dann auch professionell, ließ sich vom vorübergehenden Wegfall (im wahrsten Sinne des Wortes) ihrer Geigerin nicht beeindrucken und blieb im Takt. Auch Helen Mannert hatte sich bald wieder aufgerappelt und stimmte sofort wieder in das Spiel mit ein - wenngleich ihr das Geschehen sichtlich peinlich war. Dessen ungeachtet mußte die Show natürlich weitergehen. Und so spielten "Paddy goes to Holyhead" zum Entzücken des Publikums zahlreiche Hits ihrer Bandgeschichte. Dabei mochte "Johnny went to the War" noch als Statement zum gerade erreichten Frieden im Kosovo verstanden werden, Stücke wie "Desiree" oder "The Gipsies' Wedding Day" sorgten jedoch ausschließlich für gute Laune und ein zuckende Tanzbeine. Zwischenzeitlich verschwand Bandleader Schmidt kurz, um dann zu einem Song mit Reggae-Anleihen mit Rasta-Locken-Perücke und Bob-Marley-Mütze wieder zu erscheinen. Und so war es nicht verwunderlich, dass die Stimmung blendend war und beim Song "Whiskey for the Roadies" der Refrain aus tausenden Kehlen begeistert mitgegröhlt wurde. Nach etwa einer Stunde war dann Schluß und "Paddy goes to Holyhead" verabschiedeten sich von einem begeisterten Baunataler Publikum. Auch wenn die musikalische Abwechslung vor allem im Auftakt zum stets ähnlich klingenden fidelen Gefidele und launigen Geklampfe im Mittelteil eines Stückes bestand und auch die Texte selten über mehrere unterschiedliche Sätze hinauskamen, bereitete der Auftritt der Folk-Rocker viel Vergnügen und war weit mehr als nur der obligatorische "Anheizer".
Aber natürlich war der Großteil der insgesamt 8000 Festzeltbesucher dennoch primär wegen der eigentlichen Headliner anwesend. Während alles voller Spannung auf Ian Anderson und seine Mannen, die seit drei Jahren praktisch ohne Unterbrechung im Rahmen einer quasi unendlichen "The Best Of"-Tournee die Welt durchqueren, wartete, wurden die üblichen Umbauarbeiten auf der Bühne vorgenommen. Bei der Gelegenheit wies man das Publikum dann auch mehrfach darauf hin, dass auf "Wunsch der Band" nicht geraucht werden dürfe. Bedauerlicherweise hatte sich das nicht überall herumgesprochen, denn einer der "Tull"-Roadies qualmte zufrieden eine Zigarette nach der anderen. Soviel zum Wahrheitsgehalt von Lautsprecherdurchsagen. Allem Nikotinkonsum und politsch korrekten Peinlichkeiten zum Trotz ging es dann wenig später aber endlich los. Zu den Klängen von "Steel Monkey" vom Grammy-gekürten Album "Crest Of A Knave" legte die Band los, wobei Ian Anderson, Sänger, Flötist, Komponist und Texter in Personalunion, wie üblich erst kurze Zeit nach seinen vier Mitstreitern unter dem begeisterten Jubel insbesondere der schon etwas ergrauten Fans ins Licht der Scheinwerfer trat. Wie schon 1997 beim "Jethro Tull"-Konzert auf dem Gießener Schiffenberg (siehe Konzertbericht in "Amiga Gadget"#31) standen auch diesmal Andersons langjähriger Weggefährte Martin Barre (Gitarre), Schlagzeuger Doane Perry, Keyboarder Andrew Giddings und Bassist Jonathan Noyce dem Maestro zur Seite. Und ebenfalls wie damals waren die vergangenen Jahr(zehnt)e insbesondere an Andersons Stimme nicht spurlos vorübergegangen. Ja, während der erste zwei, drei Stücke schien sich in Baunatal gar ein Desaster anzubahnen. Der geniale Autodidakt Anderson krächzte streckenweise mehr als er sang - und das bei einer Songauswahl, die wohl bewußt erneut seinen nur noch eingeschränkt gegebenen gesanglichen Fähigkeiten angepaßt war. Das ging so weit, dass man richtiggehend aufatmete, wenn er wieder eine Strophe geschafft hatte und/oder in die Flöte blasen durfte. Doch dann geschah ein kleines Wunder und Andersons Stimme erholte sich hörbar, so dass schon bald von dieser Seite einem praktisch ungetrübten Konzertgenuss nichts mehr im Wege stand.
Und so schöpfte die - freilich in unterschiedlichen Besetzungen - bereits seit über drei Jahrzehnten bestehende Band aus dem reichen Fundus ihrer Geschichte und präsentierte dem begeisterten Publikum einen Klassiker nach dem anderen. Dabei griffen die Mannen um Ian Anderson nach dem Opener diesmal zunächst besonders tief ins Portfolio und zauberten vor allem die stark R'n'B-orientieren Songs von den ersten beiden Alben "This Was" und "Stand Up" hervor. "For a thousand Mothers", "Serenade to a Cuckoo" (das Anderson als das Lied ankündigte, welches er als erstes auf der Querflöte beherrschte), "Nothing is easy" und "A new Day yesterday" folgten beinahe Schlag auf Schlag, unterbrochen nur von einem noch unbetitelten Instrumentalstück von Martin Barre, welches jedoch dem auf seinem Soloalbum "The Meeting" (vgl. die Rezension in "Amiga Gadget"#28) vorgestellten Material verblüffend ähnelte. Nicht zuletzt dabei wurde erneut deutlich, dass der Ausnahmegitarrist, der als einziger seit dem zweiten "Tull"-Album "Stand up" neben Anderson stets zur Formation der Band gehörte und sich inzwischen seine Haare wieder, wie es sich füer einen Rockmusiker geziemt, (verhältnismäßig) lang wachsen läßt, für die Musik von "Jethro Tull" von essentieller Bedeutung ist. Auch an diesem Abend gelang es ihm, selbst verzwickteste Gitarrensoli einfach aussehen zu lassen. Dass er sich dabei erneut voller Bescheidenheit im Hintergrund hielt und sich bereitwillig als Objekt für Scherze des blendend aufgelegten Frontmannes Anderson hergab, spricht zusätzlich für ihn. Aber auch die anderen drei Bandmitgleider erfüllten ihre Aufgaben (gewohnt) überobligationsmäßig. So wurde denn der Song "Fat Man", bei dem sich alle fünf "Tull"-Musiker im vorderen Bereich der Bühne versammelten, auch zu einem heimlichen Höhepunkt der Konzertes. Lediglich die zum Teil inzwischen selbst nicht mehr ganz so gertenschlanken Konzertbesucher älteren Geburtsdatums konnten sich offenkundig nicht so recht für das muntere Lied begeistern, bei dem insbesondere Giddings und Noyce eine Show mit erheblichen komödiantischen Einlagen lieferten und Ian Anderson die Flöte gegen eine kleine Gitarre eintauschte.
Doch damit (natürlich) der Höhepunkte nicht genug. In Baunatal gewährten "Jethro Tull" auch Einblick in neues Material. Schon seit geraumer Zeit ist nicht nur das neue Album der Band angekündigt, das - in Anspielung auf die unter <http://www.j-tull.com> abzurufende WWW-Seite der Band - unter dem Titel "dot com" im Laufe der nächsten Wochen nun endlich erscheinen soll. Angekündigt ist überdies auch das dritte Soloalbum von Ian Anderson, auf welches die Fangemeinde aber wohl noch bis ins Jahr 2000 warten muß, da die Plattenfirma verständlicherweise einen zeitlichen Abstand zur Veröffentlichung des "Tull"-Albums wahren wollte. Den Konzertbesuchern wurde an diesem Abend aber wenigstens ein kleiner Vorgeschmack geboten. Zusammen mit seinen vier Mitstreitern präsentierte Ian Anderson den Titeltrack dieses bislang noch unveröffentlichten Albums. "The Secret Language Of Birds" entpuppte sich dabei als ruhiges Stück mit einer sehr eingängigen Melodie, die natürlich von der Flöte des Meisters beherrscht wird. Doch anders als noch auf seinem letzten Soloausflug, dem Album "Divinities", handelt es sich diesmal nicht um ein rein instrumentales Werk - auch wenn der Text, den Anderson zu "The Secret Language Of Birds" sang, nicht allzu komplex wirkte. Nach diesem leckeren Appetithäppchen ging es dann aber in gewohnter Manier weiter - "Jethro Tull" schöpften aus ihrem großen Fundus an Songmaterial und boten u.a. das textlich recht anzügliche "Hunting Girl", die rein instrumentale Johann-Sebastian-Bach-Variation "Bourée", die Rockerhymne "Too old to rock'n'roll, too young to die" und das kirchenkritische "My God" vom "Aqualung"-Album dar. Während es mit "This is not Love" ein wenig härter zur Sache ging, gab die Band dem Publikum dann mit dem längsten Stück des Abends wieder ein wenig Gelegenheit zum Durchatmen. Erstaunlicherweise handelte es sich dabei nicht um "Thick as a Brick", auf das "Jethro Tull" diesmal gänzlich verzichteten, sondern um die wundervolle zehn Minuten lange Ballade "Budapest". Als dann Andrew Giddings zu einem lang anhaltenden Klaviersolo ansetzte und sich von einem Roadie ein Glas Champagner servieren ließ, wurden zwei Dinge klar: Zum einen würde nun der Hauptteil des Konzertes demächst enden. Und zum anderen würde jetzt "Locomotive Breath" folgen, der energiegeladene Klassiker aus dem Jahre 1971. Und tatsächlich legten sich die fünf "Tull"-Musiker nach Giddings' kurzer Trinkpause richtig ins Zeug und gaben dem begeistert mitgehenden Publikum, was es hören wollte. Unter tosendem Beifall verließen "Jethro Tull" danach die Bühne - allerdings nicht für allzu lange. Denn natürlich schuldeten sie ihren Fans noch eine Zugabe. Und die sollten diese bekommen. In einem geschickt verwobenen Medley präsentierten Ian Anderson und seine Mannen noch zwei unvermeidliche Klassiker ihres Repertoires: "Aqualung" und "Living in the Past". Und wie es bei ihrer "Best Of"-Tournee zur guten Tradition gehört, stieß Anderson auch diesmal wieder zwei gewaltige Luftballons dem Publikum entgegen in die Lüfte, so dass viele schon ganz mit diesen beschäftigt waren, als der Brite sein "Cheerio" sang, mit der Flöte winkte und zusammen mit seinen Bandkollegen endgültig die Baunataler Bühne verließ.
Mit ziemlich exakt zwei Stunden Spielzeit dauerte das Hessentagskonzert der "respektierten Rentner-Rockband" (Tagesspiegel) im Vergleich zu anderen Auftritten der Gruppe erfreulich lange. Und das ist das Wort, welches diesen Abend wohl am treffendsten kennzeichnen dürfte. Erfreulich war nämlich nicht nur die Dauer des Konzertes. Erfreulich war auch die Vorgruppe "Paddy goes to Holyhead". Erfreulich war überdies die Qualität des Sounds, der bis zuletzt in erstaunlicher Brillianz durch das Festzelt Baunatals tönte. Erfreulich war die Spielfreude der Band. Erfreulich war der niedrige Eintrittspreis. Und erfreulich war nicht zuletzt vor allem auch die experimentierfreudige Songauswahl, die den Besuch des Konzertes auch dann wertvoll erschienen ließ, wenn man "Jethro Tull" auf ihrer "Best Of"-Tournee bereits ein- oder mehrmals besucht hatte. Was bleibt ist ein gelungener Konzertabend, der auch durch wenige im Laufe der Jahrzehnte verkleinbürgerlichte Fans mit Kantinenmentalität ("Hinten anstellen ! Nicht drängeln ! Das ist mein Platz !") nicht getrübt werden konnte. Und es bleibt die Hoffnung, dass die "Uralt-Combo" (Oberhessische Presse) dem Publikum noch lange erhalten bleiben wird. Wenn es Anderson, dem "kauzigen Tull-Chef" (Tagesspiegel), auch in Zukunft gelingen sollte, die "Blutzufuhr" der Band durch junge, spielfreudige Mitglieder wie Giddings und Noyce aufrecht zu erhalten, besteht eigentlich kein Zweifel, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen sollte. Und letzten Endes macht es übrigens auch Sinn, dass "Jethro Tull" auf dem ländlich-traditionell angehauchten Volksfest des Hessentages spielen. Immerhin ist die Band nach dem Erfinder einer landwirtschaftlichen Sähmaschine aus dem Jahre 1733 benannt.