Plattenlabel | : | SPV/Inside Out Music | Genre | : | Progressivrock |
Spieldauer | : | 64:44 min | Preis | : | 30 DM |
Wenn es in der doch eher auf Traditionen und Abgrenzung zum "kommerziellen" Mainstream bedachten Progressivrock-Szene so etwas wie "Shooting Stars" gibt, dann füllte in jüngerer Zeit vor allem eine Band diesen Begriff aus. Seit ihrem grandiosen Debütalbum "The Light", auf dem die Amerikaner mit dem Titelsong und "The Water" gleich zwei Stücke mit einer Spieldauer von weit über 15 Minuten vorlegten, werden sie von Musikkritikern und Publikum gleichermaßen gefeiert, ihr drittes Studioalbum "The Kindness Of Strangers" (vgl. Rezension in "AmigaGadget"#37) erhielt sogar von dem eigentlich nicht primär auf progressive Rockmusik spezialisierten Musikmagazin "Rock Hard" 9 von 10 Punkten. Und gerade bei diesem Album zeigten "Spock's Beard", dass sie sich nicht nur im Nu in die erste Garde der Neo-Prog-Band gespielt haben, sondern dass sie auch in der Lage sind, eine komplette CD unter enormem Zeitdruck einzuspielen. Diese Qualitäten durften sie dann auch bei ihrem neuen Album "Day For Night" unter Beweis stellen, das gerade mal ein Jahr nach "The Kindness Of Strangers" in die Plattenläden gekommen ist. So musste u.a. die gesamte Nachbearbeitung in nur wenig mehr als einer Woche erfolgen, wobei natürlich auch noch der Gitarrist wegen einer Erkrankung nur kurz Verfügung stand. Beste Voraussetzungen also, um den Erfolg des Vorgängeralbums zu wiederholen ?
"Day For Night" eröffnet das Album mit einem spektakulären Intro. Nach einigen obskuren Tönen wird der Song kurz eingezählt - "one-two-three-four" - und dann geht die Post ab. Der Titeltrack ist ein typischer "Spock's Beard"-Song der schnelleren Gangart - angetrieben von Alan Morses stark verzerrter E-Gitarre und basierend auf der exakten Rhythmussektion, in der Bassist Dave Meros und der wegen seines "Genesis"-Engagements nach wie vor als werbewirksames Aushängeschild der Band fungierende Schlagzeuger Nick D'Virigilio beinahe erschreckend gut harmonieren. Etwa zur Hälfte wird das Tempo zugunsten einer nachgerade balladesquen Sektion zurückgenommen, in der Neal Morse einmal mehr zeigen kann, dass er nicht nur ein hervorragender Sänger und Keyboarder ist, sondern auch seine akustische Gitarre exzellent beherrscht. Danach gewinnt "Day For Night" erneut an Kraft und erreicht mit einem packenden Solo von Ayo Okumoto auf der Hammond-Orgel sowie einer kurzen Multivokal-Passage weitere Höhepunkte. Mit (synthetischen) Streichern beginnt dann der zweite Track, "Gibberish". Nach einem kurzen Einsatz der ganzen Band erklingt ein sehr gelungenes dreistimmiges A-cappella-Intermezzo, das dann jedoch wieder geschickt in einen kraftvollen Song übergeleitet wird. Dabei erinnert die leicht verstörende, abgehackte Singtechnik streckenweise stark an den älteren "Spock's Beard"-Titel "Thoughts". Mit einem fulminanten Schlagzeugsolo klingt "Gibberish" dann nach etwas über vier Minuten aus.
Doch es geht nicht weniger spektakulär weiter. Eine wunderbar schräge E-Gitarre (der anglophile Fachmann würde sie als "funky" bezeichnen) eröffnet nun "Skin". Auch beim dritten Song von "Day For Night" geht es sehr flott zur Sache, musikalisch wird es nach dem frechen Auftakt jedoch ein klein wenig konventioneller, so dass "Skin" durchaus auch bei Freunden nicht-progressiver Rockmusik Anklang finden könnte. Interessanterweise handelt der Text von dem (natürlich vergeblichen) Versuch, seine wahre Natur zu verleugnen - man darf darüber spekulieren, ob "Spock's Beard" sich selbst einen selbstironischen Seitenhieb auf diesen durchaus in Richtung Mainstream getrimmten Song verpaßt haben. Ebenfalls volle Radiotauglichkeit besitzt jedenfalls auch der nachfolgende Titel. Mit einer spanisch angehauchten Gitarre, einem Stilmittel, dessen sich die US-Amerikaner ja bereits des öfteren (wie z.B. in "The Light") bedient haben, beginnt "The Distance To The Sun", das auch im folgenden primär von einer akustischen Gitarre (und einem Piano) untermalt wird. Beinahe noch wichtiger ist jedoch der mehrstimmige Gesang, der dieser wundervoll-schwermütigen Ballade erst zu der richtigen Atmosphäre verschafft. Natürlich liegt der Vergleich mit dem Meisterstück "June" vom "Kindness"-Album nahe, doch eine qualitative Wertung fällt ähnlich schwer wie bei der Betrachtung zweier perfekter Edelsteine.
"But there is a world apart from what we know
there is a time/place the eyes will never show
we can be as one
and be farther than the distance to the sun"
Sehr krass fällt nun der Kontrast zum fast zehnminütigen "Crack The Big Sky" aus. Ein von Schlagzeug und Baß beherrschtes Intro gibt das flotte Tempo vor, mit dem "Spock's Beard" hier wieder einmal loslegen. Als witzige Neuerung ertönt nach knapp anderthalb Minuten etwa dreißig Sekunden lang das Geräusch klatschender Hände, so dass man sich bereits auf die Live-Präsentation von "Crack The Big Sky" freuen darf. Im folgenden entspinnt sich ein munterer, aber alles andere als seichter Song, zu dem sich dann auch noch das Saxophonspiel von John Garr gesellt. Die letzten Minuten gehören schließlich gänzlich den einzelnen Musikern, die jeweils kleinere Soloeinlagen geben und so ihre technischen Fertigkeiten beweisen können, bevor dann in den letzten sechzig Sekunden wieder der Refrain einsetzt. Es folgt mit "The Gypsy" der gesellschaftskritische Song des Albums. Doch der ist so gelungen aufgemacht, dass der bei solchen Stücken immer zu fürchtende "Zeigefinger-Effekt" nicht einstellt. Im Gegenteil: "The Gypsy", das sehr sanft beginnt und nach einem kurzen Schlagzeugwirbel dann stark an Geschwindigkeit gewinnt, ist ein weiterer Rocksong, der jedoch ein wenig harmonischer gestrickt ist als etwa "Crack The Big Sky" oder "Day For Night". Ebenfalls sehr melodisch - und weitaus ruhiger - ist nun "Can't Get It Wrong", das einzige reguläre Stück des Albums, welches nicht ausschließlich von Neal Morse geschrieben wurde. Zusammen mit seinem Bruder Alan und Nick D'Virgilio hat er eine sehr hübsche, wenn auch ein klein wenig triviale Ballade komponiert, deren Refrain über allerbeste Ohrwurmqualitäten verfügt.
Mit "The Healing Colors Of Sound (Part 1)" beginnen danach sechs individuell benannte und in einzelne Tracks aufgeteilte Songs, die musikalisch jedoch zusammengehören und auch direkt ineinander übergehen, so dass letzten Endes von einem 22 Minuten langen Stück ausgegangen werden darf. Der Titel "The Healing Colors Of Sound" kann dabei wohl als Anspielung auf "The Revealing Science Of God" der Progressivrock-Urahnen "Yes" verstanden werden. Musikalisch sorgen "Spock's Beard" aber wie auf ihren früheren Mammutstücken auch diesmal wieder für reichlich Abwechslung. Das rein instrumentale "The Healing Colors Of Sound (Part 1)" beginnt mit einer Art Fusion aus Rock-, Jazz- und klassischer Musik. Mit "My Shoes" geht es hingegen mit einem sehr melodischem Song weiter, der dann wiederum von dem schrägen "Mommy Comes Back" abgelöst wird, einem Titel, der nicht zuletzt durch den wirren Text und die stark verzerrte E-Gitarre in der Tradition von "Thoughts" oder "Gibberish" steht. Wieder ruhiger wird es dann mit der sehr vokallastigen Ballade "Lay It Down", bevor der zweite Song(teil) mit dem Titel "The Healing Colors Of Sound" erklingt. Hier wird jedoch nicht an "The Healung Colors Of Sound (Part 1)" angeknüpft, vielmehr handelt es sich um eine Art Up-Tempo-Fortsetzung von "Lay It Down". "My Shows (Revisited)" nimmt hingegen nicht nur "My Shoes", sondern vor allem auch "The Healing Colors Of Sound (Part 1)" und "The Healing Colors Of Sound" auf, die in meisterlicher Weise miteinander verknüpft werden. Und dann endet dieser musikalische Grenzgang zwischen Genie und Wahnsinn - jedenfalls auf der regulären "Day For Night"-Pressung. In Europa konnte der Vertrieb Inside Out Music die Band dazu bringen, einen Bonustrack für eine limitierte Sonderausgabe einzuspielen. "Spock's Beard" entschieden sich dabei für eine Coverversion und wählten "Hurt" von einer weithin unbekannten Formation namens "Code Blue". Dieser für die US-Prog-Rocker ungewöhnlich harte Song folgt somit nach einer kurzen namenlosen Übergangssektion und peitscht dann förmlich auf den Hörer ein. Und wie es oft bei Bonustracks der Fall ist, muss man auch "Hurt" nicht unbedingt gehört haben. Als kostenlose Zugabe ist er aber natürlich allemal ganz nett und zeigt "Spock's Beard" von einer anderen, gänzlich unkomplizierten Seite.
"Ich schreibe rein intuitiv und benutze immer die Wörter, die mir spontan über die Lippen kommen. 'Crack The Big Sky' beispielsweise handelt in den Strophen von dem besonderen Flair der 60er und 70er, aber frag' mich nicht, worum es im Refrain geht. Ich habe keinen blassen Schimmer! Auf der anderen Seite ist diese Art zu texten aber auch eine Art Psychotherapie, die mir hilft, mich selbst besser kennenzulernen. Und dann gibt es noch jene seltsamen Songs, die scheinbar aus dem Nichts heraus entstehen. 'Mommy Comes Back' ist eines dieser Stücke: Es basiert auf einem Schlaflied, das meine Frau im Kindergarten immer den Kleinen vorgesungen hat. Plötzlich wurde daraus ein SPOCK'S BEARD-Song, der eine bizarre Story von einer Mutter erzählt, die von den Toten aufersteht."
Jedenfalls in einer Hinsicht stellt "Day For Night" eine echte und unbestreitbare Steigerung zum Vorgängeralbum dar. Cover und Booklet sind diesmal absolut zeitgemäß und professionell gestaltet. Ersteres ziert eine obskure Skulptur, die wohl eine Art Riesen-Zahnrad darstellen soll, während in der sich dahinter erstreckenden Landschaft immer wieder nicht minder seltsame Gebilde zu erkennen sind. Das ganze erinnert, auch in Verbindung mit dem auf der Rückseite des Booklets zu findenden Bandfoto, entfernt an die gestalterischen Ausschmückungen der letzten "Pink Floyd"-Alben. Im Kontrast dazu steht das zwölfseitige Booklet selbst. Hier hat sich Layouter Thomas Ewerhard mehr an der Independent-Szene orientiert und die komplett abgedruckten Songtexte vor schmutzig-unruhige Hintergründe gesetzt und mit leicht verschmiert wirkenden Überschriften in fetten schwarzen Lettern versehen. Dabei gelang ihm erfreulicherweise das Kunststück, die Leserlichkeit der Texte nicht allzu stark zu beeinträchtigen. Und da das Booklet des weiteren auch wieder zahlreiche der "Beard"-typischen Fotoreihen aus dem Privatleben und Tourneealltag der Bandmitglieder enthält, erhält man auch in dieser Hinsicht eine professionelle Produktion von beeindruckender Qualität. Musikalisch ist das Album ohnehin über jeden Zweifel erhaben.
Wie schon auf "The Kindness Of Strangers" spürt man auch bei "Day For Night" neben den zwangsläufigen Prog-Rock-Einflüssen durchaus beatlesque Harmonien und Melodien. Stärker als auf dem Vorgängeralbum kommen diesmal jedoch wieder die aus "The Light" und "Beware Of Darkness" bekannten disharmonisch aufgelockerten Rock-Rhythmen im Stile der Progressivrock-Pioniere "Gentle Giant" zum Tragen. Was ein wenig fehlt sind die musikalischen Wagnisse, Experimente und Neuentdeckungen. Fast alle Ingredenzien von "Day For Night" hat man auf früheren "Spock's Beard"-Alben schon einmal gehört. Nach drei sehr abwechslungsreichen Studioalben sei der Band jedoch eine gewisse schöpferische Pause zugestanden, zumal "Day For Night" weit davon entfernt ist, sich in Selbstplagiismus zu ergehen. (Ausschließlich) Von der Struktur her erinnert "Day For Night" übrigens ein wenig an das aktuelle "Fish"-Album - während die erste Hälfte songorientiert ist und musikalisch ein wenig stärker in Richtung des Mainstreams geht (wenngleich in weit geringerem Maße als das bei "Raingods With Zippos" der Fall ist), enthält die zweite Hälfte trotz rein faktischer Untergliederung in mehrere Titel eigentlich nur ein einziges Prog-Rock-Stück von klassisch-epischen Ausmaßen. Anders als das Album des Schotten ist "Day For Night" jedoch ein völlig konsistentes Album, das unter keinem schwachen Titel leidet. Die professionellen Kritiker zeigten sich jedenfalls zu Recht unbeirrt begeistert, "Rock Hard" vergab diesmal sogar die Höchstpunktzahl: 10 Punkte für "Day For Night". Das wird schwer zu überbieten sein. Doch man soll den Tag bekanntlich nicht vor der Nacht loben.
"I think that my overall impression is: Yes with balls. And a decent vocalist."