Plattenlabel | : | Roadrunner Rec / Papillion Rec. | Genre | : | Rock |
Spieldauer | : | 60:30 min | Preis | : | ca. 30 DM |
Internet ist in, WWW ist hip, wer surft en vogue. Jeder, der sich zumindest den Anstrich von Modernität geben will, setzt auf das "Netz der Netze". URLs sind inzwischen wichtiger als Telefonnummern und selbst auf dem Kleintransporter des Handwerkers von nebenan prangt bereits dessen WWW-Anschrift. Auch in der Rock- und Pop-Branche hat man den Werbewert des Mediums entdeckt und ist fleißig dabei, ihn für sich einzusetzen. Um so erstaunlicher, dass bislang noch niemand die Sache bis auf die Spitze getrieben hat. Da musste erst die britische Rock-Legende "Jethro Tull" kommen, die jetzt endlich ihr schon seit längerem eingespieltes, aus Marketing-Gründen aber immer wieder verschobenes neues Album veröffentlicht hat. Bei der Suche nach einem passenden Titel fiel der Blick der Mannen um den als "einbeiniger Flötenspieler" bekannt gewordenen Ian Anderson auf die eigene, noch nicht zu lange existente WWW-Seite <http://j-tull.com>. Und da sie in diese mit Tour-Tagebüchern, individuellen Linkempfehlungen und anderen (zumindest angeblich) unmittelbaren Beiträgen der Bandmitglieder mehr Energie und Aufwand investiert haben als die meisten anderen echten oder vermeintlichen Rock-Stars, verfielen "Jethro Tull" auf eine Lösung, die die ultimative Synergieeffektmitnahme versprach, und nannten ihr jüngstes Baby "j-tull dot com" - oder auch einfach nur "dot com" genannt. Versuchen da vielleicht ein paar abgehalfterte Rock-Veteranen verzweifelt Anschluss an die Gegenwart zu simulieren, indem sie einem aktuellen Trend folgen ? Oder was steckt wirklich hinter dem neuesten "Tull"-Opus ?
Los geht's jedenfalls, insoweit nichts neues, mit einem anschwellenden Triller aus Ian Andersons Flöte, der "Spirals" einleitet, den Opener der CD. Das Stück ist ein "Tull"-Song im Stile der letzten Jahre - kompakt, flott und gitarrenlastig, getrieben von der aus Bassist Jonathan Noyce und Schlagzeuger Doane Perry bestehenden, präzise vor sich hin arbeitenden Rhythmussektion. In der Mitte wird das Stück zur Freude der Progressivrock-Freunde leicht dissonant, bewegt sich dann aber recht schnell wieder in konventionellere Bahnen, um schließlich mit einem großen Knall zu enden. "Spirals" war ein vielversprechender Start, doch mit dem nun folgenden Titeltrack "dot com" wird es sogar noch besser. Das beginnt schon mit dem ausgefeilten Intro, welches in eine indisch angehauchte, jedoch nicht folkloristisch aufgetragen wirkende Flötensequenz übergeht. Zusammen mit der Gastsängerin Najma Akhtar, deren Gesang dem Stück jedoch nur ganz zart im Hintergrund beigemischt ist, trägt Anderson eine sehr melodiöse Ballade vor, in die er geschickt Motive des Internet-Universums einfließen läßt.
"Give a clue; leave a kind word
Hint as to a destination
A domain where our cyber-souls might meet"
Nach diesem romantischen Intermezzo zeigt "AWOL" nun wieder die härtere Seite der Engländer. Um eine hübsche Flötenmelodie herum bauen Anderson und seine Mitstreiter einen munteren Song auf, bei dem jeder Musiker, nicht zuletzt dank eines weitgehend rein instrumentalen Mittelteils und Endes, seine Fähigkeiten unter Beweis stellen kann. Der rätselhafte Titel, der wohl nicht rein zufällig ein wenig an den Namen eines bekannten Online-Dienstes erinnert, steht im übrigen für die dem Refrain entnommene Wendung "Absent With-Out Leave". Gänzlich ohne Texte kommt nun das noch nicht einmal eine Minute lange "Nothing @ All" aus der Feder von Keyboarder Andrew Giddings aus, der es mit seinen Tasteninstrumenten wohl auch alleine eingespielt hat. Sehr gelungen ist dabei der Übergang zum nächsten Stück, "Wicked Windows", das sich praktisch nahtlos anschließt. Andersons klagender Gesang und einige clevere Melodie- und Geschwindigkeitswechsel machen diesen Titel interessant, wenngleich die Vermutung naheliegt, dass er im Live-Repertoire der nach wie vor auf einer nie endenden Tournee durch die Welt ziehenden Band eher deplaziert wäre.
Ganz anders hingegen "Hunt By Numbers", welches auf einem eher simplen Gitarrenriff basiert und auch ansonsten dem Typ "straighte Rocknummer" zuzuordnen sein dürfte. Dabei hat diese Hommage Andersons an seine Katzen (!) durchaus Charme, zumal Martin Barre die Gitarre katzengleich zum Heulen bringt und Giddings sich im Hintergrund an seiner Hammond-Orgel so richtig austoben kann. Überdies besitzt das Stück eine wunderbare unterschwellige Dramatik, die so gar nicht zu dem Bild von den sanften Haustieren passen will. Der nächste Titel ist neben "Nothing @ All" dann der einzige dieser CD, der nicht von Ian Anderson alleine geschrieben wurde. "Hot Mango Flush" entstand in einer Kooperation mit seinem langjährigen Weggefährten und kongenialem Gitarristen Barre und fällt nicht nur aus dem Rahmen dieser CD, sondern dürfte das Ungewöhnlichste sein, was Tull seit "A" eingespielt haben. Nicht nur, dass sich Anderson ausschließlich auf einen eher monotonen Sprechgesang beschränkt und die gesamte Instrumentierung streng rhythmisiert ist, auch der obskure Text ist völlig in den Dienst der eigentümlichen Sache gestellt. Man darf wohl vermuten, dass sich viele "Tull"-Fans mit diesem Stück nicht anfreunden werden. Gibt man ihm jedoch eine Chance, wird man den frechen Charme dieser außergewöhnlichen Komposition zu schätzen wissen - eine nette Abwechslung ist es allemal.
"Hot mango flush,
Ladies with ice cream hair -
Gyroscopic pink neon beams -
Everybody's happy about something."
Doch der wahre Höhepunkt der Albums folgt jetzt mit "El Nino". Nach einem ruhigen, aber schon spannungsgeladenen Beginn, entwickelt sich ein düsterer Rock-Song über das rätselhafte Klimaphänomen "El Nino" (spanisch für "das (Christ)Kind"), welches in einem Teil der Welt Dürre und Hungersnöte, in anderen Regionen hingegen Überschwemmungen oder Rekordernten hervorruft. Dabei kommt Martin Barres gelegentlich stürmisch einfallender E-Gitarre eine wichtige Rolle zu, doch auch Andersons Flötenspiel sorgt für eine beklemmende Atmosphäre, die das Gefühl vermittelt, als stünde man selbst im Auge des Sturmes. Zwangsläufig wieder ein wenig ruhiger geht es dann mit "Black Mamba" weiter. Obwohl - oder vielleicht auch: weil - rhythmisch ein wenig abgehackt, entwickelt das Stück doch erstaunliche Ohrwurmqualitäten. Weitaus überraschender, im wahrsten Sinne des Wortes, ist jedoch das sich anschließende "Mango Surprise", in dem "Hot Mango Flush" wieder aufgegriffen wird, Andersons Gesang sich auf die mehrmalige Wiederholung dieses Titels beschränkt und Schlagzeuger Doane Perry die Mambo-Trommeln schlagen darf.
"Bends Like A Willow" beginnt nun wie ein "klassischer" "Tull"-Song und entwickelt sich auch in weitgehend schon bekannten Bahnen. Das ist aber natürlich, insbesondere nach den "Mango"-Nummern, alles andere als verkehrt. Mit der leicht klagenden Melodie und der flotten Baßbegleitung hätte "Bends Like A Willow" stilistisch aber auch sehr gut auf das 82er "Tull"-Album "Broadsword And The Beast", welches zu ihren größten Erfolgen in Deutschland zählt, gepaßt. Und auch das sich anschließende "Far Alaska" hätte gut ein Kind dieser Epoche der Bandgeschichte sein können. Insgesamt ein wenig härter als "Bends Like A Willow" lebt "Far Alaska" vor allem von dem Duell zwischen Flöte und Gitarre, wenngleich in einem umfangreichen Instrumental-Teil auch Andrew Giddings mal wieder zeigen darf, was er so alles kann. Erwähnenswert dürfte schließlich noch sein, dass etwa zur Mitte des Songs wohl ein tonleiterhaftes Motiv aus "Wicked Windows" zitiert wird.
In "The Dog-Ear Years" läßt Anderson einen Mann in der Mitte seines Lebens ein leicht nostalgisches Fazit ziehen. Der grüblerische, durchaus auch selbstironische Text wird dabei von einer - für "Tull"-Verhältnisse ! - eher zurückhaltenden Instrumentierung begleitet, wenngleich auch dieses Stück über einen kleinen rein instrumentalen Teil verfügt. "A Gift Of Roses" bildet nun den offiziellen Schluß des Albums. Mit einer intelligenten Mischung aus akustischer und elektrischer Gitarre sowie Giddings' Akkordeon einfallsreich in Szene gesetzt, weiß auch dieser Track rundum zu gefallen. Aber wer ein bißchen Geduld an den Tag legt, braucht die CD jetzt noch nicht aus der Stereoanlage zu nehmen. Denn nach einigen Sekunden Stille erklingt plötzlich Andersons Stimme:
"Hello, this is Ian Anderson. Congratulations: you have happened to find a bonus track on this issue of the new Tull record. It's a preview of the title track from my solo album `The Secret Language Of Birds'. Tweet, tweet - tweet, tweet. See you in the morning."
Und nachdem er sich so zwitschernd (und mit Sicherheit augenzwinkernd) verabschiedet hat, folgt dann tatsächlich "The Secret Language Of Birds" in voller Länge. Das ist zwar keine Weltpremiere, da "Jethro Tull" dieses Stück bereites während der letzten Monate live zum besten gegeben haben (vgl. Konzertkritik in "AmigaGadget"#41). Aber in der Albumfassung kommt die primär akustische Instrumentierung natürlich besser zum Einsatz, so dass die harmlose Ballade auch lebendiger wirkt als in der eher unspektakulären Live-Darbietung. Ein netter Bonus ist sie allemal.
Andersons Texte sind in den seltensten Fällen leicht durchschaubar. "Dot com" macht da keine Ausnahme. Zwar sind die grundlegenden Themen meistens erkennbar. Anderson ist jedoch ein Meister der Andeutungen und Umschreibungen, der geistige Vorgänge zumeist in äußerlichem Geschehen abbildet und dann auf das Interpretationsvermögen des Hörers vertraut. Werden die Songtexte zunächst noch von dem - eher losen - Band des Bezuges zur Computer- und Internetwelt zusammengehalten, so fehlt dieser spätestens ab der Hälfte des Albums. Statt dessen entdeckt der aufmerksame "Tull"-Kenner dann zahlreiche wie zufällig in die Texte eingebaute Zitate alter Songtitel der Band - "At Last, Forever" (in "Far Alaska") oder "Passion Play" (in "A Gift Of Roses") mögen als augenfälligste Beispiele dienen. Ansonsten bleibt viel Spielraum für Interpretationen und Spekulationen, wie es sich für ein gutes Album ja auch gehört.
Das zwölfseitige Booklet entspricht dem gewohnt hohen "Tull"-Standard - alle Songtexte, mit Ausnahme der geheimen Vogelsprache,sind gut lesbar abgedruckt, zudem erfreuen den Käufer auch zahlreiche Fotos der Bandmitglieder. Überdies steckt noch ein "Schmankerl" im Detail. Dass "Jethro Tull" sich gerne der Möglichkeiten synthetischer Klangerzeugung bedienen, um ihre Musik facettenreicher zu machen, hat Ian Anderson nie verheimlicht. Und so werden bei Tastenkünstler Andrew Giddings als gespielte Instrumente nicht nur die Hammond-Orgel, das Klavier und das Akkordeon, sondern auch "chromatic and qwerty keyboards" gelistet. Gegenüber der gelungenen Gestaltung des Booklets fällt, das muss auch in dieser Schärfe so gesagt werden, das Cover der CD leider ganz erheblich ab. Zwar hat die Band auch in der Vergangenheit des öfteren schon mit paganistischen Motiven gespielt. Die blauhäutige, bocksköpfige Kreatur, die den CD-Käufer mit glühend roten Augen anstarrt und die Ian Anderson höchstpersönlich nach einer Skulptur von Michael Cooper für das "dot com"-Cover gezeichnet hat, hat jedoch nicht nur keinerlei Bezug zum Album selbst, sondern sieht auch noch ziemlich lächerlich aus. Besonders albern ist in diesem Zusammenhang, dass der blaue Heidengott für Ärger in den Vereinigten Staaten sorgte. Dort hatten die sittenstrengen Tugendwächter Bedenken, ob sich nicht die zartbesaitete Bevölkerung eventuell an dem deutlich erkennbaren Genital des Geschöpfes stören würde, so dass das Cover letzten Endes in den USA nur in einer - im wahrsten Sinne des Wortes - beschnittenen Version akzeptiert wurde.
Aber natürlich zählt auch bei "dot com" primär das, was dann später aus den Lautsprechern erklingt. Und das ist solide "Tull"-Arbeit. Auch wenn der Kritiker der Fachzeitschrift "Musikexpress/Sounds", der das Album ansonsten "nicht übel" fand, mäkelte, dass Andersons "Stimme, genau genommen, nur noch aus Zwischentönen besteht", und der schon seit längerem nicht mehr sonderlich sangeskräftige Brite in der Tat nicht mehr zu den erstklassigen Sängern der Branche zählt, weiß "dot com" in musikalischer Hinsicht rundum zu überzeugen. Das wohl auch, weil man sich des Problems am Mikrophon bewußt war und in kalkulierter Fortschreibung der bereits bei den Vorgängeralben "Catfish Rising" und "Roots To Branches" (vgl. Rezension in "AmigaGadget"#22) praktizierten Taktik extreme Tonlagen vermieden hat. Darüber hinaus erweisen sich die fünf "Tuller" jedoch einmal mehr als exzellente Musiker und Anderson als nach wie vor kreativer Kopf, der musikalisch auf seiner vergangenen Arbeit aufbaut, ohne dabei in uninspiriertem Selbstplagiatismus zu erstarren. Dass die Fans das honorieren, zeigte sich auch in dem Erfolg des nur zurückhaltend beworbenen Albums, das nach Erscheinen sofort in die Charts einsteigen und beim Versandhändler jpc sogar die Spitzenposition einnehmen konnte. Und wer gut komponierte Rockmusik mag, sollte sich dieses Album tatsächlich nicht entgehen lassen.
"Jethro Tull is Millenium Proof !!"