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Mike Oldfield: The Millennium Bell

Plattenlabel : Warner Music Genre : diverse
Spieldauer : 44:58 min Preis : ca. 35 DM

Mike Oldfields Glocke, das Jahrtausend und Albert Speer

Nachdem Mike Oldfield lange Zeit neue Alben lediglich sporadisch veröffentlichte, scheint er derzeit von geradezu unbändiger Schaffenskraft erfasst zu sein: Mit "The Millennium Bell" brachte er vor kurzem sein drittes Album innerhalb eines Jahres auf den Markt. Nebenbei ließ er eine große Villa auf Ibiza bauen, absolvierte die erfolgreiche "Then & Now"-Tournee durch Europa und fand, so jedenfalls die jüngsten Gerüchte, zu allem Überdruss auch noch Zeit, seine neue 22-jährige Freundin zu schwängern - alle Achtung!

Nun ist, wie gerade jüngst einem Artikel des "Rolling Stone" zu entnehmen war, der derzeit vorherrschende Rhythmus, alle zwei bis drei Jahre ein neues Album zu veröffentlichen, tatsächlich eher Marketing-technischen als musikalischen Gründen zu verdanken: diese Frist wird nämlich benötigt, um herauszufinden, was die Käufer wollen, wie und wann das Produkt platziert werden soll usw. Früher hingegen, als z. B. noch keine Videos gedreht werden mussten, waren drei Alben im Jahr eher die Regel denn die Ausnahme; zusätzliche Singles, die nicht einfach aus dem gerade aktuellen Album herausgekoppelt wurden, kamen mitunter auch noch hinzu.

Eine dritte CD innerhalb so kurzer Zeit ist demzufolge im Grunde kein besonderes Ereignis. Bei Mike Oldfield ist es wieder ein Album aus der, so muss man es inzwischen nennen, "Bells"-Reihe. Das erste, "Tubular Bells", war und ist nach wie vor Oldfields bekanntestes und erfolgreichstes Album. 1992, zwanzig Jahre nach Erscheinen des Erstlings, folgte "Tubular Bells II" und schließlich 1998 die dritte Folge. Letztere hatte mit den Original "Tubular Bells" kaum mehr als Name und Vorkommen der gleichnamigen Röhrenglocken gemein und wartete stattdessen mit bis dato für Oldfield sehr ungewöhnlichen Techno- und Dancefloor-Beats auf (vgl. "AmigaGadget"#38). Obwohl man festellen konnte, dass diese Mixtur durchaus funktionierte, hatte Oldfield vorerst genug von Tanzboden und wummernden Bässen, verkaufte die große Villa auf Ibiza für 5 Millionen Pfund an den Oasis-Sänger Noel Gallagher und kehrte zurück nach England, um dort eine CD ausschließlich mit Gitarren aufzunehmen. "Guitars", so der ebenso schlichte wie treffende Titel dieses Albums, enthielt zwar einige Kabinettstückchen, die vor allem live dargeboten zu überzeugen wussten, machte jedoch ingesamt einen eher unfertigen Eindruck - Folge wohl nicht zuletzt der ausgesprochen kurzen Produktionszeit. Und jetzt erscheint, nach wiederum sehr kurzer Zeit, erneut eine Fortsetzung der "Tubular Bells"-Reihe. Schnelle Produktion, das ganze auch noch benannt mit dem Wort des Jahres 1999: "Millennium" - es sieht so aus, als wolle hier ein alternder Musiker kurz vor dem Jahrtausendwechsel noch einmal die Kassen klingeln lassen.

Ein Blick ins Cover offenbart zunächst, dass sämtliche Songs bestimmte Ereignisse und Zeitepochen des vergangenen Jahrtausends repräsentieren. Entsprechend wurde (leider) auf einen Abdruck der Songtexte verzichtet und stattdessen kurze Erläuterungen zu den einzelnen Tracks gegeben. So erfährt man, dass sich Oldfield beim ersten Stück, "Peace On Earth", vom Jahre Null, also dem Zeitpunkt der Geburt Jesu Christu (str.), inspirieren ließ. Der Friede auf Erden beginnt (ähnlich wie TB3) mit windartigen Gesäusel, abgelöst von archaisch anmutenden Holzgeblase, schließlich intoniert eine Frauenstimme eine schöne Hintergrundbegleitung, wie man sie etwa von Künstlern wie Enya kennt. Und dann setzt eine weitere Frauen- bzw. Mädchenstimme ein, deren Wirkung man nur noch mit überwaltigend bezeichnen kann: "Girl soprano" Camilla Darlow singt in geradezu vollendeter Schönheit den - zugegebenermaßen etwas banalen - Text vom Beginn der Christenheit. Schon bei "Pictures In The Dark" (1985) ließ Oldfield einen Knaben den Refrain singen, und wie seinerzeit kann man sich auch bei "Piece On Earth" der Wirkung des Gesangs, der hervorragend zum Thema und zur Stimmung des Songes passt, kaum entziehen. Nach einigen Gitarrensounds kommt später noch der "London Handel Choir" hinzu, der der feierlichen und getragenen Stimmung zusätzlichen Ausdruck verleiht. Schließlich endet der Song so, wie er anfing: Backgroundgesang, Holzgeblase und Gesäusel.

Nach diesem mehr als gelungenen Auftakt folgt "Pacha Mama", zu deutsch: Mutter Erde. Dieser Song steht für die blühende Inka-Kultur und basiert auf einem Text, den Oldfield während eines Besuchs in Peru von einem Touristenführer bekommen haben will. Nach einigen Klavierläufen, wird, begleitet von ruhigen Ethnorhythmen, von mehreren Sängerinnen und Sängern der Text des Songs vorgetragen. Schließlich kommen gleich zwei Chöre zu Hilfe. Ein zunächst ungewöhnlicher, aber schließlich sehr interessanter Song. "Santa Maria" ist nicht etwa die New-Age-Fassung eines bekannten deutschen Schlagers, sondern repräsentiert vielmehr die Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus, seinerzeit bekanntlich mit dem Schiff gleichen Namens unterwegs. Wie schon beim ersten Stück ist auch hier die junge Sopranistin Camilla Darlow am Werke. Zum darauffolgenden, nicht von ungefähr an Vangelis erinnernden Klaviersound, tritt ein Shanty-Chor hinzu. Tatsächlich ist es wieder der "London Handel Choir" der hier, mit herrlich getragener, tiefer Stimme, waschechtes Seemanns-Feeling aufkommen läßt - ungewöhnlich, aber eine gelungene Idee! Zumal es am Ende des Songs, wenn sich der majestätische Männer-Chor dem Titel des Stückes erneut annimmt, noch einmal eine Spur feierlicher zugeht. Insgesamt ein witziger Song, sehr gut auch geeignet zum Mitsingen in Dusche oder Badewanne!

Danach wendet sich Oldfield dem Thema Sklaverei zu: "Sunlight Shining Through The Cloud" beginnt, nach einigen afrikanischen Gesangsfetzen und entsprechenden Rhythmen mit den rezitierten Worten: "Amazing Grace ...". Nun hat Oldfields Komposition nichts mit dem gleichnamigen Gospel zu tun, zum Autor dieses Textes wird allerdings im Cover ausdrücklich folgende Angabe gemacht:

Tracks 4 verse lyrics written by
Captain John Newton (1725 - 1807)
Some time captain of the slave ship duke of the argyle,
later advocate for the abolution of the slave trade

Von eingängigen, afrikanisch-groovigen Rhythmen begleitet, zu der später eine wirklich kernige Basslinie tritt, wird in diesem Song mit schönen Gospel-Gesang, dargetan vom "Grant Gospel Choir", das aus der Wolke scheinende Sonnenlicht beschworen und dabei immer wieder auf den Text des reuigen Kapitäns zurückgegriffen.

Aus den dunklen Zeiten der Sklaverei in die unbeschwerte Blütezeit Venedigs soll "The Doge's Palace" den Hörer führen. Dazu erklingen schnell repetierende Geigen, Oboe und - natürlich! - erneut der "London Handel Choir". Dieser wirft etwa die Namen dreier venezianischer Dogen in das Stück - "I'm Franceeeesco Donaatooo!!" knödelt es dann aus den Lautsprechern - dazu gibt die Drummaschine den - wenn auch leichten - Dancefloor-Rhythmus vor. Rondo Veneziano goes Techno, so läßt sich das ganze vielleicht noch am ehesten beschreiben. Hier fragt man sich wirklich: Muss den heutzutage jeder Rhythmus techno-like daher kommen? Oldfield selbst hat in einem Radio-Interview treffend festgestellt, dass es vor allem der gelungene Schlagzeug-Sound (von Simon Phillips) gewesen sei, der seinerzeit "Moonlight Shadow" zum Hit gemacht habe. Schade, dass er diese Sorgfalt bei "The Doge's Palace" nicht walten ließ, in dieser Form jedenfalls wirkt der Song, trotz guter Ansätze, ein wenig billig.

Weiter geht es mit "Lake Constance", einem rein orchestralen Stück, das - um es vorwegzunehmen - größtenteils nur Langeweile verbreitet. Oldfield hat, wie das Cover stolz vermerkt, sämtliche Orchester-Parts der "Millennium Bell" an nur einem Tag mit dem "London Session Orchestra" eingespielt; so schlicht und wenig orginell hört sich zumindest "Lake Constance" denn auch an. Was sich schon bei "Mont St. Michel" aus dem "Voyager"-Album (1996) abzeichnete, bestätigt sich leider auch hier: große orchestrale Werke sind Oldfields Metier nicht.

Darum wenden wir uns lieber dem nächsten Track zu. "Mastermind" soll die Stimmung während der Prohibition im frühen 20. Jahrhundert widerspiegeln. Erstaunlicherweise versucht Oldfield dieses mit coolen, modernen Grooves und Bässen, doch die "twanging Guitar" à la James Bond läßt dann doch noch auf des Künstlers Absicht schließen. Eine kühle Frauenstimme murmelt dazu das Titelwort, eine ebenso kühle Männerstimme soll wohl einen Gangsterboss imitieren, der sich fragt, was Liebe ist ("What is love?"), abgerundet wird das ganze mit Filtersweeps und schließlich auch noch mit einigen Bläsersätzen. Insgesamt vermag der Song tatsächlich die von Oldfield gewünschte Atmosphäre an den Mann zu bringen, wenngleich man sagen muss, dass das dieses anderen Künstlern schon weitaus besser gelungen ist (man denke nur an Jon & Vangelis' "The Friends Of Mr. Cairo"). Dennoch nett und unterhaltsam.

Anschließend wird es wieder getragen und orchestral, denn Oldfield läßt erneut das "London Session Orchestra" antreten, um mit "Broad Sunlit Uplands" eine symphonische Komposition zum Besten zu geben. Diesmal jedoch werden die Streicher von einer ruhigen Klaviermelodie geführt, und siehe da: es funktioniert! Vielleicht wird zuweilen etwas zu dick aufgetragen, dennoch läßt sich dieses klassische Stück hören. Gegen Ende kommt dann noch ein wehmütiger Mundharmonika-Sound hinzu, angesicht dessen man eigentlich eher an einen zweitklassigen Italo-Western denkt. Dabei hat das Lied den Zweiten Weltkrieg zum Thema, sein Titel entstammt einer Rede Churchills.

Daran anknüpfend liest Oldfields Tochter Greta, deren kindliche Stimme schon im Finale von "Tubular Bells III" zu hören war, im nächsten Stück Worte aus Anne Franks Tagebuch vor:

"When the birds sing outside
and you see the trees changing to green
the sun invites one
to be out in the open air
when the sky is so blue
then, oh then I whish for so much..."

Dieses werden die einen kitschig finden, oder auch nicht angemessen innerhalb eines profanen Stückes Popmusik, die anderen wird es schlicht anrühren. Nach schönem Gesang, einem weiteren Anne Frank-Zitat, gefolgt von der klassischen Oldfield-Gitarre, wird - musikalisch unterstrichen durch einige ungewöhnliche Sprachsamples wie etwa dem berühmten Tarzanschrei - der Bogen auf die "moderne Zeit", so das Thema von "Liberation", gespannt.

Weiter geht es mit "Amber Light", dem zehnten Stück der "Millennium Bell", das ebenso wie sein erstes mit einem feierlichen und schön vorgetragem Gesang beginnt. Nach diesem Duett kommt, angetrieben von African Drums und tiefen Synthesizerflächen, ein wunderbarer afrikanischer Chor zu Gehör, der emphatisch und ausdrucksstark das kommende Jahrtausend besingt. Auch Oldfields Gitarre weiß hier einmal mehr zu überzeugen und fügt sich hervorragend in den Song ein. Ein ebenso feierlicher wie gelungener musikalischer Ausblick in das nächste Millennium!

Schließlich gelangen wir zum letzen Stück des Albums. Im großen und ganzen werden hier alle Stücke des Albums noch einmal in einer Reprise zitiert, allerdings untermalt von heftigen Dancesounds- und -rhythmem. Die "Ibzianische Legende" (Covertext) DJ Pippi hat hier zusätzlich Hand angelegt und verhilft dem Song "The Millennium Bell" mit rüden Analog-Sounds à la Faithless und Konsorten tatsächlich zu einem gewissen Technofeeling. Durch die konsequentere Umsetzung, etwa durch die gelungene Bassline, funktioniert diesmal auch die Verbindung zwischen Techno und den venezianischen Renaissancesounds. Mitten im stampfenden Geschehen ist dann ein Signal zu hören, ein Stimme zählt "Zero!" und schließlich schmettert mit wie üblich gewaltigem Krachen die "Millennium Bell" in das Geschehen! Allerdings bleibt es - titelgerecht - bei dieser einen Glocke, denn nach einer kurzen Pause fahren gleich die venezianischen Technomusiker weiter fort, in deren Sound kongenial eine furiose Oldfield E-Gitarre einfällt. Abschließend beschwört der afrikanische Chor noch einmal das kommende Millennium und mit einem allerletzten Gitarrenriff geht Oldfields "Millennium Bell" zu Ende.

Dieser Abschluss hinterläßt beim ersten Hören ein gewisses Gefühl der Enttäuschung: der mittlerweile legendäre Sound der Tubular Bells nur einziges mal zu hören, und das auch nur sozusagen "im Vorübergehen"? Überhaupt: Nach dem allerersten Hören wirkt diese Platte nicht gerade wie ein Meisterwerk. Doch wie alle guten Stücke braucht auch die "Millennium Bell" ihre Zeit: je öfter man sie hört, desto spannender, vielschichtiger und interessanter wird sie. Zwar hätte ihr an mancher Stelle eine Spur weniger Getragenheit und Dramatik nicht geschadet dennoch ist es insgesamt wieder einmal ein sehr gelungenes Album von Mike Oldfield. Es hat zwar (wie schon der dritte Teile) nicht das geringste mit den ursprünglichen "Tubular Bells" zu tun, darf sich aber durchaus in eine Reihe mit den vielen anderen guten Oldfield-Alben stellen, zumal Oldfield auch in "The Millennium Bell" wieder einmal neue Pfade, wie etwa den verstärkten Einsatz verschiedener Chöre, beschreitet.

Doch noch einmal zurück zu dem einsamen Glockenschlag am Ende der "Millennium Bell". Warum hat es Oldfield bei dieser sehr knappen Reminiszenz belassen, statt wie sonst das gewaltige Getöse noch ein wenig auszudehnen? Deutlich wird des Künstlers Absicht, wenn man die Linernotes studiert. Dort ist zu lesen, dass dieser eine Glockenschlag zeitgleich mit dem Jahrtausendwechsel erklingen soll. Diese Idee entwickelte Mike Oldfield nach der Konzertpremiere von "Tubular Bells III" in London, als man die Röhrenglocken mit Big Ben synkronisierte. Die "Millennium Bell" hingegen wird dieses Jahr auf der Silvesterfeier an der Siegessäule in Berlin zu hören sein. Mike Oldfield wird hier der musikalische Top-Act der Lichtshow "Art in Heaven" des deutschen Lichtkünstlers Gert Hof sein und neben einem "Best Of Tubular Bells" u. a. ein eigens komponiertes Stück namens "Berlin 2000" zum Besten geben. Und damit ist der englische Multiinstrumentalist mitten in ein Stück deutschen Politikums hineingeraten. Denn "Art in Heaven" sollte die "größte Lichtshow aller Zeiten" werden, u. a. mit gigantischen, 70 Kilometer in den Himmel scheinenden Lichtdomen. Lichtdome? Berlin? War da nicht was? Richtig! Albert Speer, der "Architekt Hitlers" und spätere Rüstungsminister, war es, der 1933 während einer nationalsozialistischen Großkundgebung zum ersten Male die Lichtdome als effektvolles Instrument zur Beeinflussung der Massen einsetzte. Nachdem einige, selbstverständlich sogleich als "Berufs-Mahner" diffamierte Menschen wie etwa Günter Grass auf diese unselige Verbindung aufmerksam machten, entbrannte über die Angemessenheit dieser Veranstaltung eine heftige Diskussion in den Feuilletonen der Nation. Ebenso selbstverständlich wurde hierbei auch stets darauf hingewiesen, dass Gert Hof die Lichtshow von Rammstein, also einer der Deutschtümelei ohnehin schon seit längerem verdächtigen Rockgruppe, gestaltete. Inzwischen hat sich Gert Hof mit dem Senat auf ein neues Konzept der Lichtshow, zu der nach Veranstalterangaben über eine halbe Millionen Menschen vor Ort erwartet werden, "geeinigt". So muss etwa auf die ursprüngliche Idee, dass 200.000 Menschen die vergoldete Victoria auf der Siegessäule mit Taschenlampen anstrahlen, verzichtet werden. Den Musikinteressierten dürfte jedoch trotz aller Diskussionen ein spannendes (und zudem noch kostenloses!) Konzerterlebnis mit Mike Oldfield erwarten, live konnte dieser noch stets seine musikalische Fähigkeiten auf wirklich eindrucksvolle Weise unter Beweis stellen.

© 1999 Axel Sodtalbers

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